An einem Tag im Mai 2016 klingelt das Telefon. Der Anruf sollte das Leben einer bis dato kaum bekannten Strafverteidigerin verändern. Renate Senn arbeitet in einer kleinen Badener Kanzlei und wird als Pflichtverteidigerin aufgeboten, wenn sich ein Beschuldigter keinen Anwalt leisten kann oder will.
Am Telefon ist die Staatsanwaltschaft, die den nächsten Auftrag ankündigt. In Zürich und Basel-Stadt organisiert eine neutrale Stelle die Einsätze der Pflichtverteidiger. Im Aargau hingegen kann sich die Staatsanwaltschaft ihre Gegner selber aussuchen. Für Senn spricht, dass sie eine von nur fünf Aargauer Pflichtverteidigerinnen ist, die eine Zusatzausbildung in Strafrecht haben.
Wenige Stunden zuvor stürmte ein Sonderkommando der Kantonspolizei die Starbucks-Filiale in Aarau. Für die Polizei ist es ein Triumph, für den sie später 100 000 Franken Prämie erhält. Für Senn hingegen beginnt mit der Annahme des Mandats eine Arbeit, die ihrer Karriere eine verhängnisvolle Wendung gibt. Am Schluss wird sie auf offenen Rechnungen sitzen bleiben.
Zunächst wird sie allerdings auf einen Schlag landesweit bekannt. Figuren wie Valentin Landmann beweisen, dass es dem Image nicht schaden muss, wenn man Täter verteidigt. Doch Renate Senn begeht eine Reihe von Fehlern. Diese beginnt mit ihrem ersten öffentlichen Statement. Sie kündigt an, sie werde den Tatverdächtigen im Moment weder in der Öffentlichkeit verteidigen noch als dessen «Sprachrohr» dienen.
Im Rummel um die entsetzliche Tat vergisst die Pflichtverteidigerin ihre eigentliche Pflicht: Sie muss nicht unbedingt die Tat verteidigen, sondern vielmehr den Täter. Bereits in der zweiten Einvernahme legt Thomas N. ein umfassendes Geständnis ab. Die Verteidigerin könnte dieses so stehen lassen und sich darauf fokussieren, zu erklären, wie N. zu dem wurde, was er ist.
Bis zu ihrem zweiten öffentlichen Statement vergehen zwei Jahre; sie schweigt bis zum Prozess im März 2018. Dann begeht die 49-Jährige an der Hauptverhandlung gleich drei Fehler.
Sie erfüllt nun zwar ihre Aufgabe und agiert als Sprachrohr des Mörders. Doch sie macht es auf eine Art, die allen schadet. Sie verteidigt nicht nur den Täter, sondern auch die Tat.Die in den ersten Einvernahmen gemachten Aussagen gelten als die ehrlichsten. Am Anfang übernimmt N. die grösste Verantwortung für seine Tat.
Doch je länger er den Ermittlern gegenüber sitzt und je länger er mit Senn zusammenarbeitet, desto weniger Schuld erkennt er. In ihrem Plädoyer schiebt Senn den Opfern sogar eine Teilverantwortung für die einzelnen Tatetappen zu. Diese hätten es ihm zu einfach gemacht, die Tat auszuführen.
Journalisten als «Bluthunde»
In der Urteilsbegründung, die das Gericht diese Woche verschickt hat, kritisieren die Richter Senns Ausführungen ungewöhnlich deutlich. Sie würden als «blanker Hohn» erscheinen und die Opfer und deren Angehörige «verhöhnen». Die Richter schliessen daraus, dass N. keine echte Reue verspüre.
Die Strafprozessordnung definiert, dass die Verteidigung allein den Interessen der beschuldigten Person verpflichtet sei. Senns Verteidigungsstrategie hat N. geschadet.Renate Senns zweiter Fehler ist ihre Medienkritik. Sie versucht, eine Strafminderung herauszuholen, indem sie unseriöse Medienberichterstattung sowie eine Verletzung der Unschuldsvermutung anprangert. So wurde N. vom Boulevard als «Bestie» betitelt.
Senn bezeichnet einige Journalisten in ihrem Plädoyer als «Bluthunde». Das Gericht stellt nun im Urteil fest, dass sich die Verteidigung und gewisse Medien mit diesen Begriffen aus dem Tierreich auf dem gleichen sprachlichen Niveau bewegen würden.
Auch mit dem Verweis auf die verletzte Unschuldsvermutung kann Senn nicht punkten. N. habe diese mit seinem Geständnis teilweise selber aufgehoben, argumentiert das Gericht. Und: Wer eine Gewalt- und Sexualstraftat begehe, die «in puncto Abscheulichkeit in der schweizerischen Kriminalgeschichte ihresgleichen sucht», müsse mit einer starken Medienresonanz rechnen.
Zu hohe Honorarforderungen
Den dritten Fehler macht Senn, als sie für ihre Arbeit die Honorarrechnungen schreibt. Sie stellt 155 000 Franken in Rechnung. Hinzu käme noch der bisher unbezifferte Aufwand für die Teilnahme an der Hauptverhandlung plus Wegkosten. Der Aargauer Anwaltstarif beträgt 200 Franken pro Stunde. Doch Senn verlangt 220 Franken.
In einem Schreiben legt sie dar, das Verfahren sei besonders zeitintensiv gewesen. Die Richter belehren sie mit einer Lektion in Algebra: Dies solle sich in der Anzahl Stunden niederschlagen und nicht in der Höhe des Stundenansatzes.
Doch auch bei der Berechnung der Stundenzahl wirft das Gericht Senn Fehler vor. So habe sie Telefonate von mehr als zehn Stunden mit der Mutter des Mörders aufgeschrieben, auch dies zu 220 Franken pro Stunde. Das gehöre jedoch nicht zum notwendigen Aufwand einer amtlichen Verteidigung, meint das Gericht.
Sogar die Zeitungslektüre wollte sich Senn entschädigen lassen. Das sei ebenso wenig erklärbar, schreiben die Richter, schliesslich bestehe kein Zusammenhang zu Medienanfragen. Ausserdem verrechnete Senn mehrstündige Gespräche mit anderen Anwälten als Fachaustausch. Auch dies sei nicht gerechtfertigt, da sie als Fachanwältin Strafrecht genügend qualifiziert sein müsste, um die Arbeit selber zu erledigen.
Die Richter erklären, dass sie eigentlich alle kritisierten Punkte aus der Honorarrechnung streichen müssten. Aus «Praktikabilitätsgründen» hätten sie sich jedoch für eine andere Lösung entschieden. Sie zahlen die überrissene Rechnung und streichen dafür Senns Honorar für die Hauptverhandlung. Damit werde sie immer noch «überaus angemessen» entschädigt.
Diese Mischrechnung ist eigentlich nicht zulässig. Da die Verteidigerin durch die Staatskasse finanziert wird, müsste das Gericht auf eine präzise Abrechnung bestehen. Die Streichung der Honorarnote für die Hauptverhandlung hat allerdings auch eine symbolische Komponente. Senns Plädoyer ist dem Gericht keinen Rappen wert.
Renate Senn verzichtet auf eine Stellungnahme. Angesprochen auf die Honorarkürzung, verweist sie auf einen kürzlich erschienenen Artikel des Zürcher Anwalts Lorenz Erni, der als «erfolgreichster Strafverteidiger der Schweiz» («Bilanz») betitelt wird und aktuell den Ex-Raiffeisen-Präsident Pierin Vincenz verteidigt. Er thematisiert, dass aufsässige Verteidigerinnen, die sich energisch für ihre Klientschaft einsetzen, zuweilen mittels Honorarkürzung bestraft würden.
Erni vertritt zudem die Auffassung, dass ein Verteidiger die Interessen eines Beschuldigten selbst dann vertreten müsse, wenn dies ihm am Ende schaden würde. Nach dieser Logik muss Senn die Opfer verhöhnen, falls dies im Interesse von Thomas N. wäre.
Gefälschte Kanzlei-Website
In ihrer ersten Medienmitteilung hatte Senn allerdings erklärt: «Ich werde meine Arbeit mit allem Respekt und mit Würde gegenüber den Opfern und den Hinterbliebenen wahrnehmen, denen unfassbares Leid angetan wurde.» Gemäss dem Gericht wurde Senn ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht. Das Verdikt ist hart, aber begründet.
In krassem Gegensatz dazu stehen die Diffamierungen, die sich auf einschlägigen Internetseiten über Renate Senn ergiessen. Wer ihren Namen googelt, sieht zuoberst einen Blog, der negative Artikel über sie sammelt. Betrieben wird er von einem gewissen Max Ruchti aus Zürich, der einst für die CVP politisiert hat und ein Spezialist in Suchmaschinenoptimierung ist.
Seine Seite hat eine ähnliche Adresse wie der Online-Auftritt der Kanzlei. Der Imageschaden ist besonders gross, da sich Senns Partnerinnen nicht mit Strafrecht, sondern mit Familienrecht beschäftigen. Der Angriff gilt aber auch ihr persönlich. Der Blogger veröffentlicht ihre Privatadresse und ihre Handynummer. Er will, dass ihr Telefon nicht mehr aufhört zu klingeln.
(aargauerzeitung.ch)