Als Angela Merkel das Internet vor fünf Jahren zu «Neuland» erklärte, war ich einer der Besserwisser, der höhnisch in den Chor des Gelächters einstimmte. Ich geb's zu.
Diese Woche doppelte die scheidende Bundeskanzlerin am deutschen Digitalgipfel nach und sagte zum Thema künstliche Intelligenz: «Wir befinden uns alle in einer Sphäre, in der wir uns noch nicht so gut auskennen. Ich habe früher ‹Neuland› gesagt, das brachte mir einen grossen Shitstorm ein. Jedenfalls ist es in gewisser Weise noch nicht durchschrittenes Terrain.»
Ich habe früher ‚Neuland‘ gesagt, das brachte mir einen großen Shitstorm ein. Jedenfalls ist es in gewisser Weise noch nicht durchschrittenes Terrain. - Kanzlerin #Merkel zur Gestaltung d. Gesellschaft in Zeiten d.Digitalisierung #Digitalgipfel18 #nochnichtdurchschrittenesterrain pic.twitter.com/ZYcxMIgKQD
— Steffen Seibert (@RegSprecher) 4. Dezember 2018
Natürlich trat das undurchschrittene Terrain in den sozialen Medien neuerlich eine Lawine an Witzen los. Doch mir ist das Lachen inzwischen gehörig vergangen. In den letzten Jahren sind die Herausforderungen und Schattenseiten der digitalen Welt zu offenkundig geworden, um Merkels Skepsis gegenüber Digitalisierung und künstlicher Intelligenz mit einem lustigen Tweet wegzulachen.
Wenn wir ehrlich sind, begreifen wir nur sehr gemächlich, welche gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Auswirkungen die Digitalisierung hat – und pfannenfertige Lösungen für die mannigfachen Probleme (Datenschutz, Hackerangriffe, Fake News etc.) haben wir nicht.
Fakt ist: Kurzfristig frisst die Digitalisierung Millionen Jobs, gefährdet den sozialen Frieden und die Diskussion um flankierende Massnahmen wie das bedingungslose Grundeinkommen steckt in den Kinderschuhen. Vermutlich gilt aber auch: Digitale Treiber wie Blockchain, künstliche Intelligenz und das Internet of Things schaffen neue Jobs, für die es heute noch nicht mal eine Bezeichnung gibt.
Merkel hat recht. Die Digitalisierung ist für uns Neuland. Wer hingegen glaubt, die digitale Welt und ihre Implikationen verstanden zu haben, hat vermutlich gar nichts verstanden. Künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen, Big Data, Fake News und damit verbundene Wahlmanipulationen sind nur die geläufigsten Herausforderungen. Mit Deepfakes werden Fälschungen im Netz gerade auf eine neue Stufe gehoben. Der Schutz der Online-Urheberrechte und der Knatsch um das E-Voting sind weitere Baustellen, die nach einer Lösung schreien.
Wenn Merkel das Netz und künstliche Intelligenz als «noch nicht durchschrittenes Terrain» bezeichnet, gibt ihr ausgerechnet das Gebaren der mächtigsten Internet-Konzerne aus den USA und China recht. Der Datenskandal um Facebook und Cambridge Analytica ist nur die Spitze des Big-Data-Eisberges. Als grösster Social-Media-Konzern der westlichen Hemisphäre steht Facebook im Fokus. Dass andere Firmen verantwortungsvoller mit unseren Daten umgehen, ist oder besser war eine Illusion, die mehr und mehr Risse erhält.
Fast täglich zeigt uns das Internet den Mittelfinger, wenn Hackerattacken auf Firmen bekannt werden, bei denen insgesamt Milliarden Nutzerdaten abfliessen, die für weitere Hacks benutzt werden. Und von der Öffentlichkeit fast unbemerkt tobt seit Jahren der Cyberkrieg zwischen Geheimdiensten, während Schweizer Politiker noch immer darüber diskutieren, wie unsere Cyber Defence zu gestalten sei.
Merkel hat recht. Wer Bitcoins kaufen kann, ist noch lange kein Blockchain-Experte. Wer E-Banking nutzt, versteht nicht automatisch die weitreichenderen Risiken, die sich aus dem E-Voting ergeben. Und wer Serien mit Netflix streamt, hat die Bedeutung der Netzneutralität – des zentralen Konzepts des offenen Internets – deswegen noch nicht verstanden. Oder ganz allgemein gesagt: Sarkastische Tweets über Merkels Neuland machen einen nicht zum Internet-Experten.
In den letzten Jahren hat sich das Netz – und mit ihm alle Chancen und Risiken – so schnell verändert, dass nur eines gewiss ist: Auch in nächster Zeit wird uns der digitale Wandel vor Herausforderungen stellen, die wir heute nicht mal erahnen. Insofern passt die Bezeichnung «nicht durchschrittenes Terrain» wie die Faust aufs Auge.