Seit acht Stunden steuert Jorge seinen in die Jahre gekommenen Lastwagen über die holprigen Strassen im Norden Perus. Es ist 21 Uhr, als der Ecuadorianer, der vom Alter her mein Vater sein könnte, zu mir herüberblickt und mit fürsorglicher Stimme sagt: «Wenn du müde bist, kannst du dich gerne hinlegen. Kein Problem».
Jorge schaut weiter ins Dunkel der Nacht und kurvt seinen LKW geduldig um ein Schlagloch nach dem anderen. Ich habe in meinem Kopf bereits am Nachmittag Hasstiraden abgefeuert gegen die peruanischen Strassenbauer sowie das zerstörerische Wetterphänomen El Niño. Jorge dagegen verzieht auch jetzt, viele Stunden später, keine Miene. Im Gegenteil: Er hat sogar ein Lächeln auf den Lippen, während er auf dem Lenkrad den Rhythmus eines Salsa-Songs mittrommelt.
Der ruhende Pol namens Jorge ist kein Einzelfall. Auf meiner Reise haben mich bis jetzt rund 80 LKW-Fahrer in ihre Kabine, ihr Zuhause, gelassen. Und keiner von ihnen hat je die Nerven verloren. Dabei gab es ganz viele Situationen, in denen ich geflucht hätte wie ein Rohrspatz, wenn ich am Steuer gesessen wäre und eine Lieferung hätte abladen müssen.
Ich denke zum Beispiel an Wasil in der Ukraine. Er fällt auf der Autobahn Richtung Kiew in einen Sekundenschlaf und streift mit seinem LKW die Leitplanke. Eines der Räder wird dadurch beschädigt und wir müssen eine Werkstatt suchen, um es zu ersetzen. Wasil bringt das aber nicht im geringsten aus der Fassung.
Mit Sergej will ich die Grenze von Moldawien nach Rumänien überqueren. Weil das eine Aussengrenze der EU ist, dauern der Papierkrieg und die Inspektion der Zollbeamten aber ewig. Sergej lässt die mühsame Prozedur jedoch seelenruhig über sich ergehen – und hilft mir sogar, eine andere Mitfahrgelegenheit zu finden, damit ich nicht mit ihm warten muss.
In lebhafter Erinnerung geblieben ist Lea und mir auch die LKW-Panne auf einer menschenleeren Autobahn im Norden Chinas. Unbeeindruckt von der Finsternis der Nacht sowie der eisigen Kälte kriecht unser Fahrer unter seinen Lastwagen, um den Motor wieder zum Laufen zu bringen. Lea und ich stehen zitternd am Strassenrand und verfluchen unser Schicksal. Beim jungen Mann dagegen ist nicht einmal ein Anflug von Ärger erkennbar.
Und auch für Jimmy, der uns diese Woche durchs ecuadorianische Gebirge gekurvt hat, ist fluchen offensichtlich ein Fremdwort. Als ihm ein Verkehrspolizist sagt, dass die Hauptstrasse wegen einer Gerölllawine gesperrt sei und wir einen Umweg machen müssten, zuckt er nicht einmal mit den Schultern – obwohl wir dadurch fast eine Stunde länger brauchen.
Lastwagenfahrer sind die Zen-Meister auf den hektischen Strassen unserer Welt. Während viele Autofahrer schon bei einem kleinen Stau rot sehen und zu Wutbürgern mutieren – ich eingeschlossen –, verschwenden Lastwagenfahrer keine Energie, um sich über Dinge aufzuregen, die sie nicht beeinflussen können.
Um 7 Uhr morgens weckt uns Jorge, weil wir endlich an unserem Zielort Trujillo angekommen sind. Lea und ich sehen ziemlich zerknittert aus. Jorge dagegen hat nach wie vor sein seliges Lächeln im Gesicht. Und das, obwohl er während der ganzen Nacht nur 2-3 Stunden geschlafen hat (wir haben ihm für diese Zeit selbstverständlich sein Bett überlassen) sowie im Wissen, dass er in wenigen Stunden die gleiche Strecke wieder zurückfahren muss.
Mein allergrösster Respekt, Amigo. Für dich und alle deine Berufskollegen. Ich hoffe, dass selbstfahrende Lastwagen nie den Durchbruch schaffen werden und dass ihr euch mit euren Hupen auch in hundert Jahren noch freundschaftlich grüssen werdet. Ihr Lastwagenfahrer habt in meinem Herzen ein ganz besonderes Plätzchen erobert. Drückt mir die Daumen, dass ein kleines bisschen von eurer Geduld und Gelassenheit auch bei mir hängen bleiben wird. Danke!