
Junge EU-Befürworter demonstrierten am Dienstag vor dem Parlament in London.
Bild: SEAN DEMPSEY/EPA/KEYSTONE
Das Ja zum
EU-Austritt hat Grossbritannien ins politische Chaos gestürzt.
Während manche Brexit-Befürworter ihre Entscheidung bereuen, sind
die Gegner wütend und verzweifelt. Dabei hat die Schweiz gezeigt, dass es auch anders geht.
03.07.2016, 12:5303.07.2016, 14:20
Überlegt euch gut,
was ihr euch wünscht – es könnte in Erfüllung gehen. Mit dieser
Erkenntnis sehen sich nicht wenige Menschen in Grossbritannien
konfrontiert, die letzte Woche auf dem Wahlzettel die «Leave»-Box
angekreuzt haben. Einer von ihnen ist Kelvin MacKenzie, ehemaliger
Chefredaktor des Revolverblatts «The Sun». Nur vier Tage nach der
Abstimmung bekannte er, seinen Entscheid zu bereuen: «Um die
Wahrheit zu sagen, fürchte ich das, was vor uns liegt.»
Die Zeitung hatte
vehement für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der
Europäischen Union getrommelt und bleibt eisern auf Linie. MacKenzie
aber ist längst nicht er einzige Brite, der sich nun fragt, ob sein
Brexit-Ja wirklich eine gute Idee war. Da wären etwa jene
Industriearbeiter, die aus Ärger über die Zuwanderung für «Leave» gestimmt haben und nun um ihren Job bangen. Oder jener Forscher aus
Sheffield, der dem «Guardian» gestand, er schäme sich dermassen
für sein Pro-Brexit-Votum, dass er sich bei seiner Frau und den
Kindern entschuldigt habe.
Chaostage auf der Insel
Grossbritannien ist
am letzten Freitag nicht etwa aus einem Albtraum erwacht, der
Inselstaat ist mit voller Wucht in einen solchen hinein gestürzt.
Aus der Wirtschaft mehren sich die Warnungen vor negativen Folgen,
falls Britannien den Zugang zum EU-Binnenmarkt verlieren sollte.
Gleichzeitig wird eine Häufung rassistischer Vorfälle registriert.
Und in der Politik ist das Chaos ausgebrochen. Die Erschütterungen
in der Schweiz nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wirken im Vergleich wie eine
Sandkasten-Rangelei.
«Anarchy in the
UK», brachte es das Magazin «The Economist» wieder
einmal treffend auf den Punkt. Wobei sich die Uralt-Punker der «Sex
Pistols» wundern dürften, wie sich vor 40 Jahren ins Mikrophon
geschrienen Parolen materialisiert haben. Der Volksentscheid hat in den
beiden grossen Parteien ein akutes Führungsvakuum erzeugt.
Labour-Chef Jeremy Corbyn wurde von der überwältigenden Mehrheit
seiner Unterhausfraktion das Vertrauen entzogen, weil sich der Altlinke
und ewige EU-Skeptiker nur lauwarm gegen den
Brexit engagiert hatte.
Corbyn aber denkt
nicht an Rücktritt, er verweist auf seine deutliche Wahl durch die
Parteibasis im letzten Jahr. Das brachte selbst für den konservativen
Premierminister David Cameron das Fass zum Überlaufen. In der
Fragestunde des Unterhauses rief er dem Oppositionsführer zu: «Um
Himmels Willen, Mann, gehen Sie!» Cameron hatte nach dem Urnengang
die Konsequenzen gezogen und seinen Rücktritt erklärt. Er bleibt
jedoch bis Anfang September im Amt, als ultralahme Ente.
Um seine Nachfolge
bei den Tories ist ein Machtkampf im Gang, den man als Drama von
shakespearschem Ausmass bezeichnen könnte, wäre er nicht eine
derartige Schmierenkomödie. Der vermeintliche Kronfavorit Boris
Johnson nahm sich am Donnerstag selbst aus dem Rennen, nachdem ihm
sein engster Brexit-Mitstreiter, Justizminister Michael Gove, das
Messer in den Rücken gestossen und seine eigene Kandidatur für den
Parteivorsitz angemeldet hatte.
Am Montag hatte
Johnson noch den Märchenonkel gespielt und den Briten in seiner
Kolumne im «Daily Telegraph» eine rosige Zukunft vorgegaukelt, in
der sie sich aller Vorteile des EU-Binnenmarktes erfreuen dürfen,
aber ohne Personenfreizügigkeit und ohne Zahlungen an die EU. Also
den Fünfer und das Weggli, oder wie es im Englischen heisst: «You
can't have your cake and eat it too.» Im Fall von Boris ging es
nicht nur um einen Kuchen, sondern eine Bäckerei.

Michael Gove (l.) stiess Boris Johnson das Messer in den Rücken.
Bild: DOMINIC LIPINSKI/REUTERS
Stets stand der
clowneske Ex-Bürgermeister von London im Verdacht, sich nur aus
Machtkalkül an die Spitze der Brexit-Bewegung gestellt zu haben.
Zuvor galt Johnson als Gegner eines EU-Austritts. Statt sich nun in
den Kampf um das Amt des Premierministers zu stürzen, machte er sich
feige durch die Hintertür davon. Sein Abgang passt er zur blamablen
Vorstellung der Brexit-Befürworter, die ihre wolkigen Versprechungen
aus dem Abstimmungskampf kräftig relativieren.
Damit erzeugen sie
Konsternation bei vielen, die ihren Schalmeienklängen gefolgt sind.
Und nackte Wut bei jenen, die für «Remain» gestimmt haben und
sich nun betrogen fühlen. Deshalb mehren sich die Rufe nach einer
Revision des Volksentscheids. Brexit-Gegner wie der
Unternehmer und Abenteurer Richard Branson fordern eine zweite
Abstimmung. Einfacher wäre ein Votum des Parlaments, das
mehrheitlich aus Pro-Europäern zusammengesetzt ist. Es könnte den
Entscheid umstossen, der rechtlich ohnehin nicht bindend ist, und den
EU-Austritt stoppen.
Das Kandidatenkarussell der Tories
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Das Kandidatenkarussell der Tories
quelle: epa/epa file / andy rain
Möglich wäre dies
wohl erst nach Neuwahlen, die als Legitimation für ein solches
Vorgehen interpretiert werden könnten. Daneben stellt sich die
Frage, wie ein Brexit-Debakel künftig vermieden werden kann. In der
Pflicht sind nicht zuletzt jene jungen Briten, die nun das Gefühl
haben, ihnen sei die Zukunft geraubt worden. Dabei müssten sie sich
an der eigenen Nase nehmen. Zu wenige von ihnen liessen sich am Tag X
in den Wahllokalen blicken.
DSI-Abstimmung als Vorbild
Man fühlt sich
erneut an die Abstimmung in der Schweiz über die Zuwanderung
erinnert. Nach dem 9. Februar 2014 herrschte gerade bei den Jungen
Katzenjammer. Allerdings liessen sie es nicht dabei bewenden. Sie
gründeten Bewegungen wie Operation Libero, die sich für eine
Schweiz einsetzt, die «ein Chancenland ist und kein
Freilichtmuseum». Wohin dies führte, zeigte eine weitere
bemerkenswerte Abstimmung im bemerkenswerten ersten Halbjahr
2016.
Am 28. Februar wurde
über die Durchsetzungsinitiative der SVP abgestimmt. Im Vorfeld
deutete vieles auf einen Erfolg für die Blocher-Partei hin. Dieses
Mal aber verhielten sich die Anhänger einer offenen Schweiz nicht
verzagt, wie das bei früheren Abstimmungen der Fall war. Sie
stürzten sich beherzt in den Kampf. Es kam zu einer ungeahnten
Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Sie verwandelte eine scheinbar
sichere Niederlage in einen glänzenden Sieg.
Brexit-Referendum
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Brexit-Referendum
quelle: x01988 / phil noble
Ohne den MEI-Schock
von 2014 wäre es kaum zu diesem Ergebnis gekommen. Die
britischen Chaostage nach dem Brexit-Entscheid könnten eine ähnliche
Initialzündung auslösen, zumindest bei jenem Teil von Europas
Jugend, der die Herausforderungen der globalisierten und
digitalisierten Welt annehmen will. Und sich den Weg dorthin nicht
von einer älteren Generation zumauern lässt, die damit überfordert
ist und sich nach der «guten alten Zeit» zurücksehnt.
Während der
Brexit-Kampagne war wiederholt die Rede vom «Swiss Way» als
Alternative zur EU-Mitgliedschaft. Ein solcher Swiss Way könnte
tatsächlich zum Vorbild für Europa werden, wenn auch ganz und gar
nicht so, wie sich das die rechten Nationalisten vorstellen.
Aus aktuellem Anlass:
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