Von der Öffentlichkeit kaum beachtet beziehen die führenden KI-Startups OpenAI und Anthropic in Zürich Büros für KI-Forschung. Die Limmatstadt sei ein «führendes europäisches Technologiezentrum», begründet ChatGPT-Entwickler OpenAI den Zuzug. Zürich sei ein «Top-Drehkreuz für Forschungstalente», heisst es beim direkten Konkurrenten Anthropic.
Mit Google, Meta und Chip-Entwickler Nvidia forschen Tech-Schwergewichte in Zürich an KI-Anwendungen. Gleiches gilt für Microsoft, IBM und Disney. «Für die Schweizer KI-Branche ist das ein Segen», sagt Andreas Marfurt, Dozent an der Hochschule Luzern im Bereich Künstliche Intelligenz. «Die grossen Namen wirken wie ein Magnet für Talente.» Weitere Firmen und KI-Startups würden so auf die Schweiz aufmerksam.
Amazon AWS, Huawei, Oracle und neuerdings TikTok haben ebenfalls im Umfeld der ETH Zürich Niederlassungen. Die renommierte Hochschule ist mit ihrem AI Center ein weltweit führendes Zentrum für KI-Forschung. Beispielsweise gründet auch der Apple-Standort in Zürich auf ETH-Know-how.
Anfang 2024 hat laut NZZ zudem das AI Institute seinen Betrieb in Zürich aufgenommen, ein Forschungsinstitut, das aus der Roboterfirma Boston Dynamics hervorging. Im Bereich Hochleistungsroboter gilt Zürich dank der Hochschulen sowie KI- und Robotik-Unternehmen wie Anybotics, das an der ETH gegründet wurde, als führend in Europa. Dazu kommen Dutzende Schweizer KI-Startups, die im Umfeld von ETH und EPFL aufblühen. Allein die ETH generierte 2024 zehn neue KI-Startups.
Es ist kein Zufall, dass auch internationale Tech-Unternehmen, teils schon vor Jahren, ihre Forschungsabteilungen im Umfeld der ETH und der Universität Zürich eröffnet haben. Sie profitieren von der jahrelangen KI-Grundlagenforschung der Schweizer Hochschulen, ihren Talenten und der Möglichkeit, besonders hoffnungsvolle Startups aufzukaufen. Nvidia beispielsweise, das mit seinen leistungsfähigen Chips den KI-Boom ermöglichte, fand seinen Weg in die Schweiz über die Akquisition einer ETH-Jungfirma.
In Zürich wird Googles Künstliche Intelligenz Gemini mitentwickelt, der wichtigste ChatGPT-Rivale. Vom engen Austausch zwischen ETH und Google würden beide Seiten profitieren, betonen beide Parteien.
Die Ansiedlung führender KI-Unternehmen macht die Schweiz auch als Ausbildungsstandort attraktiver. «So wird das Netzwerk von KI-Spezialisten immer grösser», sagt KI-Forscher Marfurt. Und das sei momentan wichtig, «denn die grossen Firmen teilten ihre Erkenntnisse weniger mit der Öffentlichkeit, als das noch vor ein paar Jahren der Fall war. Der Wissensaustausch passiert vermehrt über die direkte Zusammenarbeit der Industrie mit den Hochschulen», so Marfurt.
Das Zwischenfazit: Ausländische KI-Unternehmen entwickeln Künstliche Intelligenz in der Schweiz, was der heimischen KI-Branche Schub verleiht. Die Schattenseite: Die Schweiz selbst bringt in diesem Bereich bislang kaum grosse Firmen hervor.
Als 1989 am Forschungszentrum CERN in Genf das World Wide Web erfunden wurde, verpasste die Schweiz die Gelegenheit, eine weltweit führende Tech-Branche aufzubauen. Wiederholt sich die Geschichte im KI-Zeitalter oder kann die Schweiz die zweite Chance nutzen?
«Ich denke, die Chancen stehen gut», sagt Marfurt. Er sieht dafür drei Gründe: Erstens bedeute die Ansiedlung der internationalen KI-Unternehmen, «dass sie auf die Zukunft der KI-Branche in der Schweiz setzen».
Zweitens bauten die Hochschulen «schon eine Weile ihre Ausbildung im KI-Bereich aus und die Studierendenzahlen steigen».
Und drittens gehe es bei der KI-Infrastruktur vorwärts: Das Swiss National Supercomputing Centre CSCS hat den Supercomputer Alps in Betrieb genommen, mit dem Forscher der ETH und anderer Schweizer Hochschulen, darunter auch Marfurt, grosse KI-Sprachmodelle mit Schweizer Fokus trainieren.
Marfurt relativiert aber sogleich:
Das Ziel der KI-Forscher ist ein Schweizer Pendant zu ChatGPT. Davon sollen Schweizer KI-Unternehmen profitieren, die mit einem quelloffenen KI-Modell günstiger eigene KI-Anwendungen entwickeln könnten. Die Veröffentlichung des chinesischen Open-Source-Sprachmodells Deepseek könnte künftig auch mithelfen, das Schweizer Sprachmodell effizienter zu machen.
Eigene, leistungsfähige Open-Source-Sprachmodelle sind ein wichtiger Baustein, um die Schweiz von US-Techkonzernen unabhängiger zu machen. Das kann aber nur gelingen, wenn grosse Schweizer Unternehmen künftig verstärkt auf Schweizer KI-Anwendungen statt ChatGPT und Co. setzen. Sonst passiert die Innovation im Ausland und wir müssen sie später einkaufen.
In den USA haben die KI-Highflyer OpenAI und Anthropic Milliarden von Investoren eingesammelt. Auch hierzulande bauen zahlreiche Startups ihr Geschäftsmodell auf KI auf. Doch trotz weltweitem KI-Hype fehlen bei uns die grossen Finanzierungsrunden mit Beträgen über 50 oder 100 Millionen Franken. «Hohe Lohnkosten, schlechte Verfügbarkeit von Risikokapital und Bürokratie» seien Standortnachteile, meint Marfurt.
Entscheidend ist auch, ob und wie die Schweiz Künstliche Intelligenz regulieren wird: Die EU hat seit Anfang Februar eine umfassende KI-Regulierung in Kraft, die USA hingegen lockern unter Trump sämtliche Spielregeln und in der Schweiz werden derzeit Vorschläge für eine KI-Regulierung erarbeitet.
Hans Gersbach, Co-Direktor der Konjunkturforschungsstelle KOF, sagte im September, dass die EU-Regulierung «sehr hohe Anforderungen an die Unternehmen stellt», und fügte an:
«Dass die Prozesse in der Schweiz immer ein bisschen länger gehen, bringt zwar kurzfristig Unsicherheiten mit sich, aber langfristig schiessen wir selten über das Ziel hinaus», meint Marfurt. Die Neueröffnung der Büros von OpenAI, Anthropic und Meta zeige, dass die Schweiz gewisse Standortnachteile kompensieren könne. «Nichtsdestotrotz sollten wir weiterhin an der Attraktivität des Standorts Schweiz arbeiten, insbesondere für die Gründung von Startups.»