Zora Schaad ist freischaffende Journalistin und Mitarbeiterin eines Hilfswerks. Während der Flüchtlingskrise hat sie gemeinsam mit anderen Freiwilligen auf der Balkanroute Flüchtlingen geholfen. Vor einer Woche war sie in Athen, wo sie ein Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge besuchte.
Zora Schaad: Mir geht es wohl wie vielen anderen auch: Die Berichterstattung in diesem Sommer ging mir nahe. Näher als andere humanitäre Krisen, die ich miterlebt habe. So brutal es tönt: Die geographische Nähe hat eine entscheidende Rolle gespielt und als Mutter haben mich die Bilder der vielen Kinder sehr berührt.
Und dann dachten Sie: Ich muss jetzt handeln?
Sehen Sie, ich habe das wahnsinnige Glück, hier in der Schweiz geboren zu sein und meine Kinder in Sicherheit aufwachsen zu lassen. Andere haben das nicht – und stranden zu Tausenden im Balkan, auf Malta und auf Lampedusa. Ich wollte helfen. Nicht mehr und nicht weniger. Aber ich bin nicht sofort gegangen ...
Wieso nicht?
Weil die Herbstferien dazwischenkamen.
Zuerst Ferien, dann den Flüchtlingen helfen?
Ja, das tönt zynisch. Ich habe mir tatsächlich überlegt, ob ich überhaupt gehen soll. Aber alles war schon geplant und die Kinder haben sich sehr gefreut. Aber natürlich, Urlaub an einem Meer zu machen, in dem Menschen zur gleichen Zeit um ihr Leben kämpfen, ist für mich fragwürdig. Aber mit dem Widerspruch leben wir im Westen ja alle, nicht erst seit die Flüchtlingskrise in diesem Sommer diese extremen Ausmasse angenommen hat.
Wie war die Situation im Balkan?
Kurz nach meinen Ferien war ich mit der privaten Vereinigung «Tsüri hilft» in Hegyeshalom, an der ungarisch-österreichischen Grenze. «Tsüri hilft» hat dort unter harten Bedingungen eine Woche lang Flüchtlinge versorgt und nach ein paar Tagen auf Facebook verzweifelt nach mehr Helfern gerufen. Als ich mit meinen Freunden dort eintraf, hatte sich die Situation aber unerwartet komplett verändert.
Inwiefern?
Das Wetter hatte sich gerade ein wenig gebessert, die ankommenden Flüchtlinge waren nicht mehr durchnässt bis auf die Unterwäsche. Vor allem aber wurde die Grenze zu Kroatien über Nacht kurz zuvor geschlossen, womit der Zustrom an Flüchtlingen erst einmal versiegte. Im Vergleich zu der nächsten Station waren die Bedingungen in Hegyeshalom zuletzt ganz gut.
Was war die nächste Station?
Preševo, an der serbisch-mazedonischen Grenze. Dort herrschten ganz andere Zustände als in Ungarn. Jeden Tag kamen zwischen 7000 und 10'000 Flüchtlinge an, das Thermometer sank in der Nacht unter den Gefrierpunkt, die Menschen waren hungrig und viele gesundheitlich angeschlagen. Aber das Schlimmste war die Angst der Menschen, getrennt zu werden.
Waren viele Familien unterwegs?
Ich würde sagen, 50 Prozent Familien und 50 Prozent junge Männer, die entweder alleine oder in Gruppen reisten.
Und Kinder?
Auffallend war, wie viele ganz kleine Kinder unterwegs waren. Der Altersunterschied zwischen den Kindern in einer Familie ist zudem geringer als bei uns. Das bedeutet, dass ein Vierjähriger unter Umständen Aufgaben eines Jugendlichen übernehmen und sich um seine Geschwister kümmern oder selber schweres Gepäck schleppen muss.
Vor einer Woche waren Sie in Griechenland.
Ein paar Leute und ich reisten als kleine Gruppe nach Piräus, dem grössten Hafen des Landes. Piräus ist der Flaschenhals auf der Flüchtlingsroute: Wer von der Türkei auf die ägäischen Inseln übersetzt, wird früher oder später hier landen.
Wie prekär ist die Lage in Piräus?
Der Hafen selber ist nur eine Durchgangsstation. Die Flüchtlinge, die genug Geld haben, reisen sofort weiter, mit dem Bus nach Mazedonien. Die anderen bleiben fürs Erste in Athen – meist unfreiwillig. Der Victoria-Platz im Zentrum der Metropole ist die Flüchtlings-Drehscheibe.
Wie muss man sich die Verhältnisse dort vorstellen?
Es ist ein Warten. Warten auf Papier, warten auf Geldsendungen oder Warten auf Familienmitglieder, die mit einem der nächsten Schiffe folgen. Die Menschen richten sich dort ein, so gut es geht, immer im Hinterkopf, dass es sich um eine temporäre Situation handelt.
Die Menschen schlafen im Freien?
Früher ja, heute nicht mehr. Wir konnten ein «Guesthouse» besichtigen: Eine Turnhalle am Stadtrand, in der mehrere 100 Flüchtlinge ihre kleinen Iglu-Zelte aufschlagen oder sich mit Wolldecken ein Schlaflager errichten. Wenig Privatsphäre, aber immerhin geschützt vor Regen und Kälte.
Wie präsent sind die griechischen Behörden und die Hilfswerke?
Den Löwenanteil machen Freiwillige aus. Sie stellen Verpflegung, medizinische Versorgung, Schlaflager und Hygieneprodukte bereit.
Wer kümmert sich um die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge?
Am Stadtrand gibt es ein altes Hotel, das in ein Heim umfunktioniert wurde. Hier sind bis zu 100 Kinder und Jugendliche untergebracht, das «Baby-Stockwerk» ist für junge Mütter mit Kindern reserviert. Die Mütter sind teilweise derart jung, dass sie selber noch als Kinder durchgehen könnten. Der Standort des Hotels ist geheim.
Wieso das?
Weil die Kinder geschützt werden müssen. Sie sind schwer traumatisiert, wurden alleine von zu Hause losgeschickt oder wurden auf der Flucht von ihren Familien getrennt – viele sind Waisenkinder. Ausserdem besteht immer die Gefahr, dass sie in die Hände von Menschenhändlern fallen.
Wer betreibt das Hotel?
Es handelt sich um eine halbstaatliche Institution. Die Mitarbeitenden – Psychologen, Betreuer, Köche, usw. – setzen sich voll für ihre Schützlinge ein, arbeiten aber schon seit Monaten ohne Lohn – Wirtschaftskrise lässt grüssen. Ich habe sie gefragt, wie sie das überhaupt durchstehen, ihre Antwort war: «Wir leben zusammen mit unseren Freunden. Und wir haben alle einen Hund, weil wir uns keine Kinder leisten können.»
Wie lange bleiben die Kinder in dem Heim?
Zwischen sechs Monaten und einem Jahr.
Und dann?
Das ist eine der schönsten Geschichten: Alle Kinder, die bisher in diesem Heim waren, konnten wieder mit ihren Familien – oder was davon übrig blieb – zusammengeführt werden.
Wie alt sind die Kinder?
Das jüngste sechs Jahre, das älteste 17.
Haben Sie mitgeholfen in dem Heim?
Nein, wir haben uns ein Bild gemacht und Geld gespendet. Die Heimbetreiber wollten die Kinder verständlicherweise vor allzu viel Trubel schützen, mit einigen konnten wir aber dennoch sprechen. Was sie erzählten, ist unglaublich bedrückend.
Da war zum Beispiel ein elfjähriges Mädchen, das hatte vor lauter Stress und Belastung kahle Stellen am Hinterkopf: Haarausfall. Ein elfjähriges Mädchen! Als sie die Betreuerin gesehen hat, fiel sie ihr überschwänglich um den Hals. Ihre einzige Bezugsperson ist eine junge Frau, die sie vor einigen Wochen noch nicht einmal gekannt hat.
Ein anderes Mädchen, von ihm haben uns die Betreuer erzählt, hatte auf der Überfahrt von der Türkei nach Lesbos Mutter, Vater und Bruder verloren. Ich glaube, sie war sechs Jahre alt.
Wie muss man sich das Leben im Heim vorstellen?
Es wird dafür gesorgt, dass die Kinder einen geregelten Tagesablauf haben. Griechisch-Unterricht, Computer-Kurse, Basketball-Lektionen. In ihrer Freizeit können sie sich vertun. Geschlafen wird in kargen Zimmern, wenn es hoch kommt, hängen Zeichnungen von Flüchtlingskindern an den Wänden. Anderswo blättert der Putz ab. Wären die unglaublich fürsorglichen Betreuer nicht, das Heim wäre ein Ort der Kälte.
Haben die Kinder Wünsche oder Träume? Was geht in ihren Köpfen vor?
Das ist wohl das Ernüchterndste: Die Kinder wissen nicht, wie es weitergeht, müssen einfach warten. Sie haben keinen Plan. Die Helfer versuchen dann nach Kräften, Familienmitglieder ausfindig zu machen.
Wenn sie nicht apathisch werden, dann tritt ein gegenteiliger Effekt ein: Das Gefühl von Unbesiegbarkeit, gepaart mit einer totalen Gleichgültigkeit. «Wenn mich die Fassbomben, die Schmuggler und die Überfahrt in einem hölzernen Kahn nicht umgebracht haben, was kümmert mich der Griechisch-Unterricht?» Das ist verheerend, deshalb ist die Arbeit der Psychologen so wichtig.
Haben Sie auch andere Schicksale erlebt?
Klar, es gab den «Musterflüchtling». Ein 17-jähriger Afghane, der sehr gut Englisch sprach. Er war voll bei der Sache, konzentriert, ambitioniert. Freundete sich mit gleichaltrigen Griechen an. Er wollte nach Kanada, wo Verwandte von ihm leben, und dort ein Informatikstudium in Angriff nehmen. Aber er ist wohl die Ausnahme. Die meisten vergessen nicht so schnell, was sie gesehen haben.
Wie wurden Sie von anderen Helfern, die schon länger in Griechenland und auf der Balkanroute tätig sind, in Empfang genommen? Keine Vorbehalte gegenüber «selbstgerechten Helfer-Touristen»?
Ach, natürlich geht einem das durch den Kopf: Hilfsgüter, die quer durch den ganzen Kontinent transportiert werden, während die heimische Landwirtschaft am Boden liegt. Freiwillige aus ganz Europa, die Tausende Kilometer fahren, während das Land unter einer drückenden Arbeitslosigkeit leidet. Aber ist man erst einmal vor Ort, konzentriert man sich auf drei Dinge: Essen verteilen, Kleider verteilen, Informationen verteilen. Ausserdem: Wer springt in die Bresche, wenn wir nicht helfen? (wst)