Der Slogan war eingängig, und er hat funktioniert. «Keine 10-Millionen-Schweiz!», hiess es auf Plakaten, Flyern und Inseraten, mit denen die SVP die Wählerschaft zu mobilisieren versuchte. Es ist eine Message, die offensichtlich für viele Menschen bedrohlich wirkt, denn die SVP erzielte am Sonntag mit 27,9 Prozent das drittbeste Wahlresultat ihrer Geschichte.
Dabei spielte es keine Rolle, dass sie Arbeitsmigration, Asylpolitik und Ausländerkriminalität zu einer reichlich ungeniessbaren Melange verquirlt hat. Die SVP kam damit durch, weil sich die anderen Parteien einmal mehr einer substanziellen Debatte verweigerten. Dabei hat die Zuwanderung nach einer zwischenzeitlichen Beruhigung wieder stark zugenommen.
Dies erzeugt Ängste vor Dichtestress und «Überfremdung». Sie sind oft irrational, aber nüchtern betrachtet muss man zugeben, dass die SVP einen wunden Punkt trifft. Die nutzbare Fläche in der Schweiz ist limitiert. Je mehr die Bevölkerung wächst, umso grösser wird der Zielkonflikt zwischen Siedlungsraum, Landwirtschaft und Naturschutz.
Die Raumplanung bemüht sich um ein verträgliches Nebeneinander. Das aber bedingt eine Verdichtung des Wohnraums, was Widerstand provoziert. Und mit der zuletzt abgeflauten Bautätigkeit droht der Schweiz eine handfeste Wohnungskrise. Sie könnte der SVP weiteren Zulauf bescheren. Dabei hat sie kaum Rezepte gegen die Zuwanderung.
Der weitaus grösste Teil entfällt auf den Arbeitsmarkt. Um diesen Bedarf einzuschränken, müsste die SVP ihre neoliberale Wirtschaftspolitik hinterfragen. Das geschieht höchstens in Ansätzen. Folglich zielt sie auf die Personenfreizügigkeit mit der EU, unter anderem mit ihrer «Nachhaltigkeits-Initiative». Und sie missbraucht Asylsuchende als «Blitzableiter».
Andere sind mutiger, etwa Jacqueline Badran. Die bestgewählte Nationalrätin hat in einem Interview sogar die Ansiedelung von Google in Zürich hinterfragt. Wer nicht in dieses «Minenfeld» treten will, muss Wege finden, um das inländische Potenzial besser zu nutzen. Was nicht einfach ist, denn zwei Drittel der über 15-Jährigen sind erwerbstätig.
Im internationalen Vergleich ist das ein sehr hoher Wert. Dennoch gibt es «schlummernde» Potenziale, mit denen man die Zuwanderung zumindest eindämmen könnte:
Der hohe Beschäftigungsgrad täuscht darüber hinweg, dass Teilzeitarbeit in der Schweiz verbreitet ist. Fast 60 Prozent der Frauen arbeiten weniger als 90 Prozent. Bei den Männern sind es knapp 20 Prozent. Dahinter steckt ein bekanntes Phänomen: Teilzeitarbeit gilt als Karrierekiller. Deshalb sind es am Ende meist die Frauen, die ihr Pensum reduzieren.
Ein Umdenken bei den Arbeitgebern kommt nur langsam in Gang. Als Gegenmittel wird ein Ausbau der ausserfamiliären Kinderbetreuung propagiert. Eine entsprechende Vorlage ist im Parlament hängig, doch der Rechtsrutsch bei den Wahlen könnte sie zum Absturz bringen. Hinzu kommt, dass manche dank der hohen Schweizer Löhne freiwillig weniger arbeiten.
Allerdings gibt es auch Menschen, die gerne mehr oder überhaupt arbeiten würden. Die Arbeitslosenquote liegt mit zwei Prozent auf einem Rekordtief, was Vollbeschäftigung vorgaukelt. Doch die Realität sieht anders aus. Das Bundesamt für Statistik beziffert das ungenutzte Arbeitskräftepotenzial in der Schweiz auf 674’000 Personen.
Darunter befinden sich Ausgesteuerte, Temporärangestellte, Stundenlöhner und andere, die ihr Pensum aufstocken möchten. Besonders oft sind ältere Menschen betroffen. Zwar wird die Jobsuche für Arbeitslose über 50 aufgrund des Personalmangels einfacher, aber nicht einfach. Und mit zunehmendem Alter wird sie komplizierter bis unmöglich.
«Alle reden vom länger Arbeiten, aber über 55-Jährige haben es in der Realität schwer, eine neue Stelle zu finden», liess sich Pascal Scheiwiller, CEO der Outplacement-Firma von Rundstedt & Partner, in einer letzte Woche veröffentlichten Studie zitieren. Das sei für Betroffene deprimierend, besonders wenn ständig über Fachkräftemangel geklagt wird.
Das Problem liegt in den meisten Fällen bei den Arbeitgebern. «82 Prozent der Firmen verfügen über keinerlei Rekrutierungs- oder Integrationsprogramme für Risikogruppen wie zum Beispiel ältere Arbeitskräfte über 60, IV-Teilbezüger oder Frauen nach längerer Mutterschaft», lautet der Befund der Umfrage unter 1907 Personalverantwortlichen.
Ein weiteres Hindernis ist der in der Schweiz besonders ausgeprägte «Branchenkult». Zwei Drittel der Arbeitgeber verlangen gemäss der von-Rundstedt-Befragung bei der Rekrutierung zwingend Branchenerfahrung. Quereinsteiger sind demnach nicht gerne gesehen. Statt solche anzustellen und auszubilden, holt man lieber «fixfertiges» Personal aus dem Ausland.
Die «NZZ am Sonntag» hat in ihrer letzten Ausgabe auf ein weiteres Ressourcenpotenzial aufmerksam gemacht. In der wirtschaftlich vermeintlich liberalen Schweiz gibt es Bereiche, die dem Wettbewerb weitgehend entzogen und entsprechend «aufgeblasen» sind. So gibt es rund 600 Stromversorger, fast so viele wie in ganz Deutschland.
Kleinkunden sind an ihren Anbieter «gefesselt», was viele gerade schmerzhaft zu spüren bekommen. Eine Strukturbereinigung würde Fachkräfte freisetzen, die anderswo «hochwillkommen wären», so die «NZZ am Sonntag». Weitere Beispiele sind die Gesundheitsversorgung («jedem Täli sein Spitäli») oder die zahlreichen Kranken- und Pensionskassen.
Eine Bereinigung der Spitallandschaft hätte den ebenfalls willkommenen Nebeneffekt, dass die ethisch hochproblematische Rekrutierung von Ärzten und Pflegekräften im Ausland reduziert werden könnte. Mit Augenmass umgesetzte Strukturreformen setzen nicht nur Fachkräfte frei, sie führen tendenziell auch zu mehr Effizienz und niedrigeren Preisen.
Die Betroffenen wehren sich oft mit der Arbeitsplatz-Keule. Doch diese «Waffe» ist stumpf geworden. Obwohl die Wirtschaft angesichts globaler Krisen derzeit Bremsspuren zeigt, bleibt der Arbeitskräftemangel ein grosses Problem. Und es wird nicht so schnell verschwinden, denn die Pensionierungswelle der Babyboomer ist in vollem Gang.
Mehr Flexibilität in den Köpfen der Arbeitgeber, kombiniert mit Strukturreformen, würde dazu beitragen, dass das «Schreckgespenst» einer 10-Millionen-Schweiz auf absehbare Zeit gebannt wäre. Und wenn die Einsicht (noch) fehlt, dann helfen vielleicht Sachzwänge, denn überall im alternden Europa werden die Arbeitskräfte knapp.
Wenn eine Partei damit Stimmen fängt sind ja die andern selber Schuld, wenn sie die Existenz des Elefanten im Porzellanladen verneinen. Dichtestress, Wohnungsnot, limitierte Ressourcen an allen Ecken, haben laut Wahlanalysen sogar recht viele links-grüne Wähler dazu verleitet, die SVP zu wählen, die ja auch nicht gerade mit Lösungen brilliert. Aber die Augen verschliessen hilft auch nicht...