Wie kann die Schweiz ihre hohen Löhne schützen? Diese Frage ist ein Hauptstreitpunkt in der Debatte um das institutionelle Abkommen (InstA) mit der EU. Nachdem Aussenminister Ignazio Cassis im Juni 2018 in einem Interview erklärt hatte, die Schweiz müsse sich bei den flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping bewegen, kam es zum Eklat.
Die Gewerkschaften schalteten in den Kampfmodus. Angeführt von Gewerkschaftsbund-Präsident Paul Rechsteiner liessen sie die von Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann angesetzten Gespräche mit den Sozialpartnern zum Lohnschutz platzen. «Es gibt nichts zu verhandeln», betonte Rechsteiner. Der Bundesrat müsse die von ihm selbst gesetzten «roten Linien» verteidigen.
Schneider-Ammann und Rechsteiner sind heute nicht mehr im Amt. Im Mai übernimmt Pierre-Yves Maillard das Präsidium des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB). Er hat sich in seinen 15 Jahren als Waadtländer SP-Regierungsrat von Linksaussen zum Pragmatiker gewandelt. Man traut ihm zu, dass er beim Lohnschutz flexibler sein wird als Rechsteiner.
Noch bleiben die Gewerkschaften stur, wie der Auftritt von SGB-Chefökonom Daniel Lampart am letzten Freitag in der «Arena» zeigte. Gleichzeitig ist beim Lohnschutz wie beim Rahmenabkommen als Ganzes in den letzten Tagen einiges in Bewegung geraten. Mehrere Gruppierungen und Organisationen haben Vorschläge präsentiert. Ein Überblick:
Unter diesem Namen haben sich die «Europafreunde» in der SP – darunter die Nationalräte Eric Nussbaumer, Fabian Molina (ein ehemaliger Juso-Präsident) und Ständerat Daniel Jositsch – versammelt, um ein Gegengewicht zur Dominanz der Gewerkschaften im Europadossier zu bilden. Nun haben sie erstmals eigene Vorschläge für einen «verlässlichen» Lohnschutz präsentiert.
So fordern sie den Anschluss an die neue EU-Arbeitsbehörde ELA, die den Kampf gegen Lohndumping auf europäischer Ebene koordinieren soll. Weiter solle sich der Bundesrat für eine Übergangsfrist von fünf Jahren einsetzen. Es brauche mehr und effizientere Kontrollen sowie höhere Strafen bei Verstössen. Die Schweiz müsse auch die grenzüberschreitende Durchsetzbarkeit von Sanktionen verbessern und eine Haftung der Auftraggeber in Risikobranchen prüfen.
Die Wirtschaft hat die flankierenden Massnahmen eher widerwillig akzeptiert. Sie waren der Preis für den Support von links für den bilateralen Weg. Nun hat der Schweizerische Arbeitgeberverband eigene Vorschläge erarbeitet, um die flankierenden Massnahmen im neuen InstA abzusichern. Es soll unter anderem «das duale, dezentrale Vollzugssystem der Schweiz» garantieren.
Das bestehende Vollzugsinstrumentarium soll weiterhin zugelassen und die Vorschläge der EU betreffend Voranmeldefrist oder Kautionspflicht sollen präzisiert werden. So schlagen die Arbeitgeber vor, dass die Kautionspflicht nicht erst nach einem Fehlverhalten, sondern als präventive Massnahme vorgesehen werden kann, was in etwa dem heutigen System entspräche.
Die aussenpolitische Denkfabrik hat am Wochenende ein Papier zu den flankierenden Massnahmen veröffentlicht, mit dem sie einen «Ausweg aus der Sackgasse» aufzeigen will. Es umfasst zehn Punkte. Neben eher technischen Vorschlägen wie effizientere Computersysteme gehören dazu ein Ausbau der Solidarhaftung der Vertragspartner oder eine Verstärkung der Kontrollen auch bei Unternehmen, die kein aus der EU entsandtes Personal beschäftigen.
Damit könne sichergestellt werden, dass die Kontrollen nicht diskriminierend seien, schreiben die Foraus-Autoren. Interessant sind Vorschläge für eine Ausweitung des Geltungsbereichs der Gesamtarbeitsverträge (GAV) in «gefährdeten» Branchen wie Einzelhandel und Reinigung oder für mehr Normalarbeitsverträge in Sektoren ohne GAV. Sie entsprechen der neuen EU-Entsenderichtlinie, die den Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» durchsetzen will.
Eine eigene Idee hat der frühere Stadtberner Finanzdirektor Alexandre Schmidt präsentiert, der als ehemaliger persönlicher Mitarbeiter der FDP-Bundesräte Kaspar Villiger und Hans-Rudolf Merz in Bundesbern bestens vernetzt ist. Er bezieht sich auf die umstrittene Voranmeldefrist für Firmen aus der Europäischen Union. Sie soll nach dem Vorschlag der EU von heute acht Kalendertagen auf vier Arbeitstage reduziert werden.
Schmidt will ihn als «Grundregel» übernehmen. In zwei «gewichtigen» Fällen sollen aber weiterhin acht Kalendertage gelten: Für erstmalige Anmeldungen sowie für Unternehmen, die gegen den Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» verstossen haben. Beim Bund sei man über die Idee «entzückt», hält Schmidt gegenüber watson fest.
Das Sammelsurium an Ideen zeigt, dass beim Lohnschutz verschiedene Ansätze möglich sind. Sie betreffen sowohl die flankierenden Massnahmen sowie eine Stärkung auf innenpolitischer Ebene. Zumindest der zweite Punkt dürfte zu hitzigen Diskussionen führen. Von Seiten der Wirtschaft etwa ist Widerstand gegen eine GAV-Ausweitung oder mehr Normalarbeitsverträge absehbar.
Das Foraus-Team schlägt deshalb vor, dass der Bundesrat eine Konferenz mit den Sozialpartnern organisiert, um die Ursachen der Dumping-Probleme besser zu identifizieren und parallel Lösungen zu erarbeiten. Die Politik sendet erste positive Signale. Eine solche Konferenz sei «ein gut schweizerischer Weg», meint BDP-Präsident Martin Landolt.
Auch von Gewerkschaftern sind freundliche Töne zu vernehmen. «Noch nie wurde in der Schweiz so viel über Lohnschutz geredet», freut sich der Berner SP-Nationalrat Corrado Pardini. Es sei positiv, dass die Debatte von der SP und nicht von den Rechtspopulisten bestimmt werde, betont das Mitglied der Unia-Geschäftsleitung: «Die SP ist die einzige Partei in der Schweiz, die einen starken Lohnschutz und eine starke Beziehung zur EU glaubwürdig und konsequent vertritt.»
Die neuen Ideen bezeichnet Pardini als «sehr gute sozial- und innenpolitische Vorschläge». Vorgängig sei aber der Bundesrat am Zug. Er müsse «seine Hausaufgaben machen» und in Brüssel Nachbesserungen beim Rahmenabkommen verlangen, damit eine tragfähige Lösung entstehe. Der vorliegende Entwurf sei in zu vielen Punkten unklar und garantiere den bisherigen Lohnschutz nicht.
In diesem Punkt trifft sich der Gewerkschafter mit den Kollegen von LiensEurope. Der Bundesrat müsse mit der EU beim Lohnschutz «zwingend noch einmal das Gespräch suchen und eine gemeinsame Lösung finden», schreiben die proeuropäischen Sozialdemokraten. Die sei «eine Voraussetzung für den Rückhalt eines solchen Abkommens durch die Schweizer Bevölkerung».
Besonders erfreut zeigt sich Pardini darüber, dass bei den jungen Leuten von Foraus oder Operation Libero das Verständnis für den Lohn- und Arbeitnehmendenschutz zunehme: «Der Dialog mit den Jungen über die Zukunft der Schweiz ist mir besonderes wichtig.» Noch im Januar hatte er in der SRF-«Rundschau» wenig Verständnis für die jungen «Euroturbos» gezeigt.
Überhaupt wirkt der scharfzüngige Berner im Gespräch nicht mehr so kompromisslos wie bei seinen bisherigen Auftritten, etwa in der «Arena». Dies zeigt, dass sich die Fronten beim Lohnschutz wie beim gesamten Rahmenabkommen aufzuweichen beginnen. Der Weg zu einer Lösung in dieser sensiblen Frage ist weit und alles andere als einfach. Aber unmöglich ist er nicht mehr.