Und plötzlich waren sie wieder da: die magischen Nächte im Old Trafford, dem Theater der Träume. Von Beginn weg lag im Stadion von Manchester United beim Spiel gegen Liverpool etwas in der Luft, das an vergangene, sehr erfolgreiche Zeiten erinnerte. Und spätestens als Jadon Sancho in der 15. Minute im Strafraum angespielt wurde, sich zum Tor drehte, den Gegenspieler am Ball vorbeigrätschen liess und dann zum 1:0 einschoss, kam das auch bei Liverpool an.
Kurz zuvor hatte Anthony Elanga nach einem Konter den Pfosten getroffen. United war das deutlich bessere Team. Zuschauerinnen und Zuschauer, die bereits die ersten beiden Spieltage verfolgt haben, rieben sich verwundert die Augen. Ist das dasselbe Team, das in der vergangenen Woche 0:4 gegen Brentford verlor? Der Tabellenletzte der Premier League, der in einer tiefen Krise steckt? Die Antwort lautet: ja – und nein.
Erik ten Hag zeigte sich nach der zweiten Niederlage im zweiten Saisonspiel unzufrieden und wetterte: «Ich hätte am liebsten alle ausgewechselt.» Vor allem die individuellen Fehler und die mangelnde Laufleistung sorgten beim Trainer für Ärger. Deshalb stellte er nun auf vier Positionen um. Kapitän Harry Maguire und Cristiano Ronaldo mussten auf der Bank Platz nehmen. Auch Fred und Luke Shaw standen nicht mehr in der Startformation.
Dafür setzte ten Hag in der Offensive auf vier schnelle und laufstarke Spieler. Elanga und Sancho sollten gemeinsam mit Marcus Rashford und Bruno Fernandes früh ins Pressing gehen und die Defensive von Liverpool so unter Druck setzen. Und das gelang den «Red Devils» hervorragend. Wie vor Elangas Pfostenschuss in der 10. Minute oder später beim 2:0 von Rashford.
BBC-Fussballchef Phil McNulty schreibt: «Der grösste Gewinner ist ten Hag. Sein taktischer Plan hat perfekt funktioniert.» Der Niederländer selbst war begeistert von seinem Team, das «verdammt guten Fussball spielen kann». Es gehe vor allem um die Einstellung, sagte ten Hag nach dem Spiel zu Sky: «Heute haben wir Kampfgeist gezeigt und sind als Team aufgetreten.»
Damit meinte er auch die Defensive. Denn der Rekordmeister überzeugte nicht nur mit starkem Pressing und schön ausgespielten Kontern, die «Red Devils» liessen auch kaum Chancen zu. Trotz 70 Prozent Ballbesitz gelang Liverpool in der ersten Halbzeit kein einziger Torschuss. Nur einmal kam Gefahr auf: Nach einer Ecke in der 41. Minute unterlief Fernandes im Fünfmeterraum ein Querschläger, der aber auf der Torlinie von Lisandro Martinez geblockt wurde.
In dieser Situation hatte Martinez Glück, an der richtigen Stelle zu stehen. Doch der zuletzt harsch kritisierte und wegen seiner Körpergrösse von nur 1,75 Meter als untauglich für die Position des Innenverteidigers in der Premier League befundene Argentinier zeigte über 90 Minuten eine starke Leistung. BBC-Reporter McNulty lobte den «unerbittlichen Kampfgeist» von Martinez. Sein Nebenmann Raphael Varane habe die Lufthoheit über den Strafraum von Manchester United gehabt und den 24-Jährigen perfekt ergänzt.
Im Mittelfeld wird auch bald Casemiro seinen Beitrag zur Defensivleistung liefern. Der Brasilianer, der von Real Madrid in die Premier League wechselte, wurde den Fans vor dem Spiel präsentiert. Der 30-Jährige dürfte nicht der letzte Transfer von United gewesen sein. Ten Hag sagte: «Wir wollen nicht irgendwelche Spieler holen, sondern die richtigen. Aber das Transferfenster ist noch offen und wir brauchen Quantität und Qualität.» Ten Hag bastelt also weiter an seinem Kader, um zu seinem Spielstil passende Profis zu holen. Wie der Fussball vom Manchester United der Zukunft aussehen wird, lässt sich seit Montagabend zumindest erahnen.
𝗪𝗲𝗹𝗰𝗼𝗺𝗲 𝘁𝗼 𝗠𝗮𝗻𝗰𝗵𝗲𝘀𝘁𝗲𝗿 𝗨𝗻𝗶𝘁𝗲𝗱, Casemiro 🏟 🔴 pic.twitter.com/X8cbHYuydV
— Football Daily (@footballdaily) August 22, 2022
Dass sich die «Red Devils» ausgerechnet gegen den grossen Rivalen aus dem rund 50 Kilometer entfernten Liverpool aus der Krise schiessen konnten, machte die Stimmung im Old Trafford noch euphorischer. Ziemlich gegenteilig sieht sie beim unterlegenen Gegner aus. Der erste Schuss aufs Tor gelang Liverpool erst in der 55. Minute durch Luis Diaz, als man bereits 0:2 zurücklag. Das Team von Jürgen Klopp wurde in der zweiten Halbzeit zwar gefährlicher, aber es gelang lange nicht, den Abwehrriegel von United zu knacken.
In der 81. Minute verwandelte Mohamed Salah zwar einen Nachschuss per Kopf, doch in der Folge passierte nicht mehr viel und so konnte die Niederlage nicht verhindert werden. Liverpool wartet also auch nach drei Ligaspielen auf den ersten Sieg. Dies passierte dem 19-fachen Meister zuvor erst dreimal. Trotzdem zeigte sich Trainer Klopp nicht beunruhigt: «Wir haben kein Problem», stellte er nach der Partie klar.
Jedoch machen ihm die Verletzungsprobleme Sorgen. Das Team habe nur 14 oder 15 Spieler aus der 1. Mannschaft zur Verfügung gehabt. Dennoch meinte der 55-jährige Deutsche gemäss «Guardian»: «Wir hätten das Spiel gewinnen müssen. Ich weiss, dass es lächerlich klingt, aber so habe ich das Spiel gesehen.»
Liverpools Schwachstellen wurden allerdings ziemlich augenscheinlich. In der Defensive waren die «Reds» anfällig für die Konter von Manchester United und im Spielaufbau hatten sie Probleme mit dem Pressing des Gegners. Zudem zeigte sich die Innenverteidigung um Virgil van Dijk und Joe Gomez nicht gerade sattelfest.
Besonders beim 1:0 durch Sancho verwunderte die Passivität von van Dijk. Als der 22-jährige Engländer seinen Gegenspieler James Milner am Ball vorbeifliegen liess, blieb der Niederländer einfach stehen, anstatt aufzurücken. Der Torschütze sagte nach dem Spiel zu «The Athletic»: «Ich habe gar nicht realisiert, wie viel Zeit ich hatte.»
Liverpool-Verteidiger Andy Robertson sprach gegenüber Sky ein weiteres Problem an: «Wir können nicht in jedem Spiel in Rückstand geraten.» In allen drei Ligaspielen fiel das erste Tor gegen Liverpool. «Das muss sich ändern», sagte der Schotte. Nach drei Spieltagen liegt der eigentliche Meisterkandidat und Champions-League-Finalist der vergangenen Saison auf dem 16. Platz – zwei Plätze hinter Manchester United, das mit dem Sieg am Montag an den «Reds» vorbeigezogen ist.