Danny Kurmann, am Donnerstag beginnt der Playoff-Final in der National League zwischen dem HC Lugano und den ZSC Lions. Bereitet man sich als Schiedsrichter auf Playoff-Partien anders vor als auf ein Qualifikations-Spiel?
Danny Kurmann: Die natürliche Antwort wäre: Nein. Aber ehrlich gesagt ist ein Playoff-Spiel etwas Spezielles. Der Rhythmus ist ganz anders, die Intensität ist viel höher. Bei jedem Spiel geht es um «Leben und Tod» und nicht nur um Punkte. Ich erinnere mich, dass ich zeitweise kaum noch wusste, welcher Wochentag gerade war – nur noch Matchtag oder nicht Matchtag. Zudem ist es eine unglaubliche Belastung. Man ist immer unterwegs und auch das Privatleben leidet.
Dazu kommt, dass man als Schiedsrichter kaum Dankbarkeit erfährt. Wie geht man damit um, wenn man – egal wie man pfeift – von Fans und Spielern als Sündenbock abgestempelt wird?
Ein guter Schiedsrichter ist sich bewusst, dass insbesondere die Fans gewisse Entscheidungen nicht gut finden. Fehler passieren, aber das ist nicht mal unbedingt das Problem. Ein Entscheid, beispielsweise eine Strafe, ist immer gegen eine Mannschaft. Das gibt einen Konflikt. Wichtig ist, dass man seine Leistung im Nachhinein analysiert, um Fehler zu vermeiden.
Apropos Fehler: Werden Fehlentscheide auf dem Eis kompensiert?
Es ist rein menschlich, dass man einen Fehler wieder gut machen will. Während der Schiri-Ausbildung wird explizit gesagt, dass man nicht kompensieren soll, denn ein Kompensationsentscheid wäre bereits ein zweiter Fehler. Aber der Mensch ist halt eben ein Mensch. Er will Gerechtigkeit. Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass man dann einfach hart sein muss.
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn sie Dinge wie «SCB-Bonus» hören?
Wenn das jemand so schreibt, ist es einfach Polemik. Auch als Schiedsrichter ist es ein unglaubliches Erlebnis, in Bern vor so vielen Leuten einzulaufen. Da muss man einfach die Zuschauer als Partei wahrnehmen und sich nicht beeinflussen lassen. Ich kann sagen, dass es für kein Team irgendwelche Boni gibt.
Hat der technische Fortschritt den Job für die Schiedsrichter schwieriger gemacht?
Ja, ich glaube schon. Früher hat der Schiedsrichter nicht weniger Fehler gemacht. Im Gegenteil: Heute gibt es eher weniger Fehler. Dafür sieht man einfach alles im Detail. Durch HD-Kameras und Superzeitlupen ist alles gläserner geworden. Man vergisst dabei, dass der Schiri immer innert Sekunden direkt auf dem Eis den richtigen Entscheid fällen muss. Eine beinahe unmögliche Aufgabe.
Gleichzeitig ist die Technik aber auch Hilfsmittel.
Das stimmt. Als Schiedsrichter bist du interessiert daran, immer den richtigen und fairen Entscheid zu treffen – hier kann dir der Einsatz der Technik behilflich sein, wenn du einen Entscheid überprüfen kannst, zum Beispiel, ob der Puck wirklich im Tor war.
Wird den Schiedsrichtern seitens der Spieler zu wenig Wertschätzung entgegengebracht?
Ich würde eher sagen, dass der Respekt in den letzten Jahren zugenommen hat, insbesondere seit der Einführung von Profischiedsrichtern. Unmutsäusserungen von Spielern und Coaches in der Hitze des Gefechts gehören dazu. Emotionen machen auch den Reiz des Eishockeys aus. Aber spätestens wenn der Match vorbei ist, ist der Respekt wieder da.
Wie beruhigt man als Schiedsrichter einen aufgebrachten Spieler?
Es gibt verschiedene Wege, denn jeder Spieler ist anders. Grundsätzlich probiert man, dem Spieler immer eine zweite Chance zu geben, ihn zu ermahnen oder dem Trainer die Verantwortung zu geben. Eine Strafe oder ein Ausschluss soll immer das letzte Mittel sein, wenn man andere Möglichkeiten hat, deeskalierend zu wirken. Die Spieler sind dankbar, wenn man sie ermahnt und ihnen eine zweite Chance gibt.
Kennt man die Spieler so gut, dass man immer weiss, wie man reagieren muss?
Als Ref musst du natürlich im Vorfeld deine Hausaufgaben machen. Du musst wissen, was in einem Spiel passieren kann, darauf vorbereitet sein. Aber gleichzeitig darfst du nicht mit Vorurteilen einem Spieler gegenüber in die Partie gehen. Du musst ihm eine Chance geben, mit weisser Weste in die Partie zu gehen. Das ist nicht immer einfach. Teilweise kommen auch die Gegner und sagen: «Du weisst doch, der andere foult immer …». Das musst du dann ignorieren können.
Entstehen Freundschaften zwischen Spielern und Schiedsrichtern?
Freundschaften eher nicht, das wäre wohl heikel. Als ich aufhörte, spürte ich aber, dass sehr viel Wertschätzung zurückkam. Wenn ich jetzt als ehemaliger Schiri Spieler oder Trainer sehe, ist es meist recht freundschaftlich. Das ist ein schönes Erlebnis, wenn man sich zuvor jahrelang fast wie «Gegner» gefühlt hat. Ein gutes Beispiel ist Chris McSorley. Während unserer aktiven Zeit gab es oft Spannungen. Nun verbindet uns sogar eine Kameradschaft. Als er vor wenigen Tagen bei Servette wieder Trainer wurde, habe ich ihm geschrieben und gratuliert. Er hat sich sofort bedankt und scherzhaft gefragt, wann ich denn wieder aufs Eis zurückkomme.
Wird man von den Fans auch neben dem Eis angefeindet?
Ja, das habe ich auch schon erlebt. Es gab Phasen, da erhielt ich aufgebrachte Telefonanrufe. Ich lebe in der Region Zug. Dort wurde zu Aktivzeiten meine Tochter auf dem Schulweg auch schon von Fans bedroht.
Bespricht man das in der Ausbildung?
Ja. Aber derartige Ausnahmesituationen muss man selber erlebt haben, um richtig damit umgehen zu können. Solche Vorfälle können aber Karrieren entscheidend beeinflussen. Bekannte fragten mich teilweise, warum ich mir das überhaupt antue. Aber man lebt als Schiedsrichter in einer Blase und lernt, gewisse Dinge hinzunehmen.
Sie sind jetzt seit einem Jahr vom aktiven Schiedsrichtertum zurückgetreten. Vermissen Sie es?
Ja und nein. Einerseits fehlt mir jetzt während den Playoffs etwas. Die Emotionen auf dem Eis sind etwas spezielles, vor allem in dieser Zeit. Andererseits habe ich gut loslassen können. Ich habe einen tollen Job und Freizeitbeschäftigungen gefunden.
Was hat Sie zum Rücktritt bewogen?
Ich bin mittlerweile 52 Jahre alt. Das ist in diesem schnellen Sport, auch wenn man fit ist, ein hohes Alter. Als ich begann, war ich jünger als einige Spieler, nun liegt fast eine Generation dazwischen. Man merkt, dass Reaktionszeit und Spritzigkeit nachlassen. Zudem hatte ich ein sehr gutes Jobangebot der IIHF vorliegen. Es war der bestmögliche Entscheid, zu diesem Zeitpunkt aufzuhören.
Was waren die schönsten Momente in Ihrer Karriere?
Die Olympischen Winterspiele in Vancouver waren definitiv ein Highlight. Auch der Spengler Cup war jedes Mal ein tolles Erlebnis. Es ist ein Fest, das meistens ohne böse Aggressionen auskommt. Zudem gefiel mir ganz grundsätzlich die Tatsache, dass wir als Schiedsrichter im Team bestehen konnten.
Und der schwierigste Moment?
Grundsätzlich geht das Schlechte im Laufe der Jahre unter. Was ich aber nie vergessen werde war, als Chad Silver in einen Check gelaufen ist und zwei Tage später tot aufgefunden wurde. Ich war bei diesem Spiel als junger Linienrichter im Einsatz. Im Nachhinein gab es Untersuchungen, ob irgendwer an Silvers Tod Schuld war. Kollegen von mir waren plötzlich mögliche Sündenböcke. Das hat mich stark beschäftigt. Überhaupt: Wenn sich ein Spieler verletzt, trifft das immer auch den Schiedsrichter.
Nun sind Sie bei der IIHF Officiating Manager. Was sind Ihre Tätigkeiten?
Jetzt mache ich das, von dem ich als aktiver Schiedsrichter gedacht habe, man könnte es besser machen. Ich bin zuständig für die Koordination der Schiedsrichter bei allen Turnieren der IIHF. Das sind über alle Altersstufen bei den Männern und Frauen rund 30 bis 35 Turniere jedes Jahr. Zudem organisieren wir Supervisors, erarbeiten Ausbildungsrichtlinien und prüfen mögliche Regeländerungen.
Welches Thema beschäftigt die Schiedsrichter im Moment?
Aktuell sind auch bei uns Hirnerschütterungen ein präsentes Thema. Diese Verletzungen sind ein grosses Problem im Eishockey und wir diskutieren darüber, wie man sie beispielsweise mit Hilfe der Regeln einschränken könnte.
Sie sind auch für die Nomination der Refs für die Turniere zuständig. Welche Kriterien werden da berücksichtigt?
Zuerst muss ein Schiedsrichter vom nationalen Verband gemeldet sein. Er muss also in der eigenen Liga gute Leistungen zeigen. Dann kommen alle möglichen Refs in einen Pool, aus dem sie dann an die Turniere zugeteilt werden. Will man bei der A-WM oder Olympia dabei sein, muss man sich aus den tieferen Divisionen nach oben arbeiten. Dabei werden die Kandidaten nach Kriterien wie Regelkenntnisse, Physis, Verhalten und Entscheidungsfähigkeit beurteilt.
Wie bereiten Sie einen Schiedsrichter auf die Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele vor?
Bei den Olympischen Spielen ist es ein Prozess über vier Jahre. Während dieser Zeit wird mit möglichen Kandidaten gearbeitet. Sie werden beurteilt, bewertet, weitergebildet. Vor den Turnieren gibt es eine sogenannte «Longlist» mit doppelt so vielen Refs und Linesmen, wie tatsächlich für das Turnier benötigt werden. Man könnte es vergleichen mit der Weltrangliste im Tennis. In einem Selektionscamp mit Leistungstest werden dann die definitiven Nominierungen vorgenommen.
Wie stehen die Schweizer Refs im internationalen Vergleich da?
Sehr gut. Die Schweizer haben in den letzten Jahren sehr gute Schiris gestellt. Sie haben Finalspiele an diversen Weltmeisterschaften gepfiffen und sind gern gesehene Kandidaten für internationale Turniere.
Wo sehen Sie in der Schweiz noch Verbesserungspotential?
Sie könnten ihre taktischen und technischen Spielkenntnisse noch verbessern. Die wenigsten Schiedsrichter haben auf diesem Niveau Eishockey gespielt. Das ist in gewissen Situationen ein Manko, da sie vielleicht das Spiel nicht gut genug lesen können. Das ist aber nicht nur bei den Schweizern Refs ein Problem. Zudem sind wir bestrebt, in nächster Zukunft vermehrt mit mentalem Training zu arbeiten. Wir wollen die Ausbildung verstärken und vermehrt darauf hinwirken, wie sie mit auf hohem Niveau Drucksituationen umgehen können. Ein Brennpunkt ist auch immer wieder die verbale und non-verbale Kommunikation mit den Spielern und Trainern. Da ist noch grosses Potential vorhanden.
Was tut die IIHF, damit dieses Potential ausgeschöpft wird?
Wir planen eine neuartige Officiating Academy, an welcher die technische und taktische Ausbildung, Athletik und Trainingslehre, Gesundheits-Management und mentales Training angeboten, instruiert und gelebt wird. In diesem Kompetenzzentrum sollen in Zukunft sogar Spitzen-Schiedsrichter verschiedener Sportarten gemeinsam trainiert werden, damit von gemeinsamen Ressourcen profitiert werden kann. Der Sport entwickelt sich laufend und verlangt danach.
Zum Abschluss noch eine schwierige Frage: Wieso sollten junge Hockeyfans über eine Karriere als Schiedsrichter nachdenken?
Wenn ich diese Frage perfekt beantworten könnte, hätten wir überall super Schiedsrichter. Aber was ich in all diesen Jahre erlebt habe – internationale Freundschaften und Erlebnisse – das spricht für sich. Es ist natürlich schwierig das zu sehen, wenn man beginnt. Du gehst Hockeyspiele pfeifen, wenn andere in den Ausgang gehen. Das Leben als Schiedsrichter ist eine Lebensschule. Es bringt einem bei, für etwas einzustehen, etwas durchzusetzen. Man kriegt nicht immer Dank und Jubel, aber mittel- und langfristig gewinnt man Respekt. Zudem: Als junger Nachwuchs-Schiri verdient man etwas Sackgeld.