Die Videos sind sogar noch besser als die Erinnerungen daran. Der aufstrebende Novak Djokovic zeigte nicht nur mit dem Racket Talent, sondern auch als Imitator grosser Tennis-Stars. Die vielen Marotten von Rafael Nadal, die Gesten von Roger Federer oder jene von Andy Roddick mit der stark gebogenen Dächlikappe – das Repertoire des Serben konnte sich sehen lassen:
20 Grand-Slam-Titel später diskutiert die Szene darüber, wer als Grösster in die Tennis-Geschichte eingehen wird: Roger Federer, Rafael Nadal oder doch Novak Djokovic?
Man wird nie eine abschliessende Antwort bekommen. Für die einen zählen die nackten Fakten: Turniersiege, Rekordserien, die Weltrangliste. Für andere gehören bei der «GOAT»-Frage, jener nach dem «Greatest of All Time», auch weiche Kriterien dazu.
Natürlich tragen wir dabei als Schweizer eine Schweizer Brille. Alles andere zu behaupten, wäre gelogen. Aber kommen uns so viele Fehltritte von Roger Federer in den Sinn? Klar, er hat auch schon den Schläger zertrümmert. Mit dem Schiedsrichter diskutiert. Er wird für den Bau seiner Villa am Zürichsee kritisiert oder für sein höchstens halbherziges Engagement im «Fall Peng Shuai». Was uns zeigt, dass keiner perfekt ist, nicht einmal ein Roger Federer, der von vielen jahrelang für (mindestens) einen Halbgott gehalten wurde.
Obwohl er in seinen besten Jahren alles und jeden in Grund und Boden gespielt hat, war Federer selbst bei den Konkurrenten beliebt. Die anderen Tennisprofis haben ihm 13 Mal den Stefan Edberg Sportsmanship Award verliehen. Bei der Auszeichnung wird professionelles und integres Verhalten bewertet, es geht um Fairness, Sportsgeist.
Nadal erhielt den Award fünf Mal, Djokovic nie. Diskussionslos ist die Frage nach der Popularität bei den Fans: Seit 2003 hiess der Sieger 19 Mal in Folge Roger Federer.
Djokovic hatte damit lange Probleme. Er wollte und will auch so populär sein wie der Schweizer und er legte sich so sehr ins Zeug. Djokovic schenkt den Zuschauern nach grossen Siegen symbolisch sein Herz, und er ist in Interviews genau so eloquent, charmant und vielsprachig wie Federer.
Aber sein Ringen um Anerkennung und Beliebtheit verkam zu einem verzweifelten Kampf gegen Windmühlen. Denn regelmässig sieht die Welt auch einen anderen Djokovic, der mit dem unterhaltsamen Imitator von einst nicht viel gemein hat:
Madrid, 2013
Gegen Grigor Dimitrov wähnt er das Publikum gegen sich. Laut ruft er den Zuschauern auf serbisch zu: «Lutscht doch meinen Schwanz!»
Miami, 2015
Nachdem er gegen Andy Murray den zweiten Satz verloren hat, faucht Djokovic einen Balljungen an. «Es tut mir wirklich leid», sagt er danach, «es war nicht meine Absicht. Ich brüllte in Richtung meiner Box und der Junge war einfach da.»
French Open, 2016
Gegen Tomas Berdych schleudert Djokovic wutentbrannt sein Racket weg und trifft um ein Haar einen Linienrichter.
ATP Finals in London, 2016
Wütend donnert er einen Ball zur Seite und wird anschliessend gefragt, ob er sich keine Sorgen mache, eines Tages teuer für so einen Ausraster bezahlen zu müssen, falls er jemanden treffe. «Das hätte sein können», gibt Djokovic zu und zieht eine Nachfrage ins Lächerliche: «Es hätte auch sein können, dass es heute in der Halle schneit. Aber das hat es nicht.» Vier Jahre später trifft er in New York tatsächlich jemanden und seine Nonchalance in London macht wieder die Runde.
Adria Tour, 2020
Als während der Corona-Pandemie die Tennis-Tour zum Erliegen kommt, organisiert Djokovic in den Balkanländern selber Turniere. Die vielerorts kritisierte Serie wird zum Fiasko, er selber und andere Spieler infizieren sich mit Covid-19.
US Open, 2020
Im Frust schiesst Djokovic einen Ball weg und trifft wuchtig eine Linienrichterin am Hals. Da nützen auch alle Entschuldigungen nichts: Der Dominator des Jahres wird disqualifiziert.
Rom, 2021
Als es zu regnen beginnt und der Schiedsrichter weiterspielen lässt, brüllt Djokovic ihn in Orkanlautstärke an.
Olympische Spiele in Tokio, 2021
Der Serbe unterliegt im Spiel um Bronze dem Spanier Pablo Carreño Busta. Nach einem verlorenen Punkt schleudert er sein Racket auf die Zuschauertribüne. Danach versetzt er seine Partnerin Nina Stojanovic und tritt nicht zum Spiel um Mixed-Bronze an.
Gründung der PTPA, 2021
Der Serbe gründet eine Spielergewerkschaft und geht damit auf Konfrontationskurs – mit den Kollegen, den Frauen, Federer, Nadal und den Ausrichtern der Grand-Slam-Turniere.
Australian Open, 2022
Novak Djokovic reist mit einer Ausnahmebewilligung nach Melbourne, um teilnehmen zu können, obwohl er vermutlich ungeimpft ist. Am Flughafen angekommen wird diese Bewilligung annulliert.
Dass Djokovic, wie es aussieht, nicht gegen Covid-19 geimpft ist, ist seine Privatsache. Dass er dennoch versuchte, nach Australien zu gelangen, ist aus seiner Sicht nachvollziehbar: Es gibt die Möglichkeit, eine Ausnahmebewilligung zu erhalten, also stellte er einen entsprechenden Antrag.
Das Problem ist, dass Novak Djokovic sich bislang nicht zu einer Erklärung durchringen konnte. Weshalb die Ausnahmebewilligung? Vielleicht hat er tatsächlich einen guten Grund dafür. Aber wenn er ihn für sich behält, öffnet er Tür und Tor für Gerüchte. Was berichtet wird, entgleitet ihm vollends. Er wird wahrgenommen als ein ignoranter Promi, der das Gefühl hat, dass sich mit Geld und VIP-Status alles auf der Welt regeln lässt.
Nicht auszuschliessen, dass Djokovic ein Opfer innenpolitischer Machtüberlegungen geworden ist. In Australien nahen Wahlen, Premierminister Scott Morrison sammelt Punkte, wenn er sein wütendes Volk erhört und Djokovic nicht einreisen lässt. Zuzuschreiben hat sich der 34-jährige Serbe den Schlamassel aber zu einem Teil auch selber: durch seine Ankündigung, dank einer Ausnahmebewilligung nach Melbourne zu reisen. Denn er selber machte diese publik.
Happy New Year! Wishing you all health, love & joy in every moment & may you feel love & respect towards all beings on this wonderful planet.
— Novak Djokovic (@DjokerNole) January 4, 2022
I’ve spent fantastic quality time with loved ones over break & today I’m heading Down Under with an exemption permission. Let’s go 2022! pic.twitter.com/e688iSO2d4
Während Djokovic im Flugzeug sass, setzte eine Welle der Empörung ein. Als er nach einer Reise um den halben Globus wieder festen Boden unter seinen Füssen hatte, war die Welt in Aufruhr. Was, wenn er seine Nachricht unterlassen hätte? Wenn er ohne viel Aufhebens «Down Under» geflogen wäre, wo sein Antrag am Zoll angeschaut und, ohne politischen und öffentlichen Druck, auch da bewilligt worden wäre?
Es gäbe immer noch viel Kritik und viele Fragen. Aber er hätte die Chance, seinen 21. Grand-Slam-Titel zu gewinnen und damit einen mehr als Federer und Nadal.
Auf dem Tennisplatz hat sich Novak Djokovic schon oft als Entfesselungskünstler bewiesen, der auch aus ausweglosen Situationen noch ein Schlupfloch fand. Nun sitzt er in Australien fest und hat es nicht selber in der Hand, wie es weitergeht.
Was er noch machen kann, ist sich zu erklären. Ohne Impf-Geschwurbel und ohne zu behaupten, dass sich sowieso die ganze Welt gegen Serbien verschworen habe. Dann hat Novak Djokovic noch eine kleine Chance, in der Gunst der breiten Öffentlichkeit wieder etwas besser da zu stehen.
Sportlich gesehen läuft die Zeit im «GOAT»-Rennen für ihn. Er ist der Jüngste aus dem Trio mit Roger Federer und Rafael Nadal und der Topfavorit bei jedem Turnier, zu dem er antritt. 2021 hat Novak Djokovic drei Grand-Slam-Turniere gewonnen und im vierten scheiterte er erst im Final. Niemand war länger die Nummer 1 der Weltrangliste als er, in den Direktduellen liegt er gegen Federer ebenso vorne wie gegen Nadal.
Das sind Argumente, die er im Kampf um den Titel des Tennis-«GOAT» in den Ring werfen kann. Die Argumente, die gegen ihn sprechen, liefert Novak Djokovic auch gleich selbst.