Die Atemwege verengen sich, der Mund wird trocken, die Augen tränen: An den «gilets-jaunes»-Protesten am Samstag haben die Tränengas-Geschosse der Polizei nicht nur Chaoten erwischt. Friedliche Demonstranten und Medienschaffende riskierten ebenfalls ins Kreuzfeuer von Randalierern in grellgelben Westen und Polizisten mit Schlagstock, Schutzschild und Flashballs, zu gelangen.
Die Stadt der Liebe brannte.
Wenn unzufriedene Bürger auf den Champs Élysées ein «SOS-Kaufkraft» in die Welt setzen, wohlwissend, dass gleich dahinter eine Louis-Vuitton-Boutique Taschen für 4000 Euro anbietet, kann das nicht gut enden. Besonders, wenn Louis Vuitton die erklärte Lieblingsmarke der «première dame» Brigitte Macron ist.
Und es endete nicht gut. Die Stimmung vor Ort war eruptiv, die Luft roch nach Tränengas und angestauter Wut. Demonstranten zündeten Barrikaden an, schlugen Fensterscheiben ein und lieferten sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Hubschrauber kreisten pausenlos über dem Zentrum. Die Bilanz: 135 Verletzte, zahlreiche Autos fielen den Flammen zum Opfer, Geschäfte wurden geplündert. Der Sachschaden beläuft sich vermutlich in der Höhe mehrerer Millionen Euro.
Der Sachschaden wird sich auch für den Akt 4 der #giletsjaunes hoch beziffern. @watson_news pic.twitter.com/xa95z3ETbf
— Camille Kündig (@CamilleKundig) 8. Dezember 2018
Doch es gilt zu relativieren. watson-Redaktor William Stern kritisierte letztes Jahr die mediale Berichterstattung zu den Krawallen rund um den G20-Gipfel mit den Worten: «Krieg herrscht in Syrien, nicht in Hamburg». Das gilt auch für den gestrigen Tag in Paris. Man rechnete mit gewalttätigen Ausschreitungen. Bürgerkriegsähnliche Szenen gab es nicht. Tote oder Schwerverletzte auch nicht. Was es sehr wohl gegeben hat: ein Gefühl der Unsicherheit und Angst.
Die Proteste der #Gelbwesten in #Paris gehen weiter. Die Polizei geht oft auch unverhältnismäßig, gegen die Protestler vor, ohne wirklich zwischen friedlichen und radikalen Demonstranten zu unterscheiden 90.000 Polizeikräfte sind im Einsatz, 500 Personen wurden festgenommen. pic.twitter.com/8gQW9h2k5v
— Fatih Zingal (@FatihZingal) 8. Dezember 2018
In Paris marschierten 10'000 «gilets jaunes». Ihnen gegenüber standen die 8000 von der Regierung aufgebotenen Polizisten. Sie setzten neben Tränengas auch gepanzerte Fahrzeuge und Wasserwerfer ein. «Wir müssen gewappnet sein», sagt ein Gendarme beim Triumphbogen. Und erinnert, dass ein selbsternannter Sprecher der «Gelbwesten» erklärt hatte, das Ziel sei es, den Élysée Palast zu stürmen. Eine Art Putschversuch also. In anderen Quartieren der Hauptstadt marschierten währenddessen 17'000 Menschen an der «marche pour le climat». Es war ein Tag des Aufstandes, für den die Franzosen das Geheimrezept halten.
Auf dem Streifzug durch Paris kommt bei den «gilets jaunes» ein tiefes Misstrauen gegenüber den Medien zum Vorschein. Um Interviews zu führen, braucht es mehrere Anläufe.
Voici comment des gilets jaunes insultent et menacent des journalistes sur les réseaux sociaux #GiletsJaune #suisse #journalism @watson_news pic.twitter.com/9Aiz4JK8Dp
— Camille Kündig (@CamilleKundig) 5. Dezember 2018
Kommt man dennoch ins Gespräch, erzählen die «gilets jaunes» Geschichten von sozialer Ungerechtigkeit, prekären Lebenssituationen. Es sind Schicksale, die bewegen.
Ein Satz, den man zwischen Bastille und Triumphbogen oft hört, lautet: «Wir wollen leben, nicht nur überleben.» Viele Demonstrierende geben an, trotz geregelter Arbeit, ihre Rechnungen nur mit Mühe bezahlen zu können. Fragt man sie nach ihren Vorschlägen zur Besserung, plädieren sie oft für die Rückkehr der Vermögenssteuer, mehr Transparenz bei den Regierungslöhnen und die Möglichkeit eines Referendums, wie es die Schweiz kennt. «Damit das Volk das letzte Wort hat.»
Mitten auf der berühmtesten Avenue der Welt, werfen Demonstranten mit Gasmasken und Skibrillen vor dem Gesicht Flaschen und Knallkörper in Richtung Polizei. Es ist das Dilemma der ganzen Bewegung.
Auch unter den Gelbwesten gibt es «casseurs», die Gewalt nicht scheuen. Doch das gelbe Gilet ist zum praktischen Utensil für gewalttätige Gruppierungen geworden. Unter dem grellen Deckmantel tobt sich eine unübliche Truppe aus gewaltbereiten Rechts- und Linksextremen aus. Sie werden sich neben dem Hass auf Macron noch in einem weiteren Punkt einig: dem Hass auf den Liberalismus.
An diesem Samstag randalierten auch junge Männer aus den Banlieues in gelber Weste. Ihr Erkennungszeichen: Sie halten jede ihrer Gesten auf Facebook fest. «Ich schmeisse die Flasche in ihre (Anm. Red: Polizei) Richtung und du filmst!», beauftragt ein 18-Jähriger seinen Kollegen beim Bahnhof Saint Lazare am frühen Abend. Vorher rückt er noch schnell seine Gasmaske zurecht und überprüft das Resultat im Rückspiegel seines Motorrollers.
Nach Einbruch der Dunkelheit zogen die friedlichen Demonstranten ab. Ohne sie gaben im Stadtzentrum dann zeitweise die radikalen Aktivisten den Ton an.
Kurze Bestandsaufnahme aus Paris #giletsjaunes @watson_news pic.twitter.com/UpBaGy2Koo
— Camille Kündig (@CamilleKundig) 8. Dezember 2018
Erklärungsansätze dafür, wie Frankreich in diese Krise schlittern konnte, gibt es zahlreiche. Einer bezichtigt Macron des zu oft autoritären Regierens per «ordonnance». Auch sein zurückhaltendes Verhalten der letzten Woche könnte sich kontraproduktiv ausgewirkt haben. Die Stimmung ist so aufgeheizt, dass es am Samstag auch keine Rolle mehr spielte, dass die Regierung zurückgekrebst ist und den Diesel-Preis nicht mehr erhöhen will. Es ist ein spannender Werdegang: Macron wollte das alte System hinwegfegen und sieht sich nun selber einer Revolte gegenüber.
Denn die Gelbwesten sind schon lange nicht mehr Macrons einziges Problem. Gymnasiasten blockierten letzte Woche ihre Schulen und lieferten sich Strassenschlachten mit der Polizei. Studenten bestreiken die Universitäten, um gegen eine stärkere Selektion bei der Studienplatzvergabe anzukämpfen. In der kommenden Woche wollen nun auch noch Lastwagenfahrer und Landwirte streiken. Für gewisse Experte ist somit klar: Es handelt sich nicht mehr nur um eine politische Krise, es ist eine Regime-Krise, ein Moment der Revolution.
Auf Facebook formierten sich am Samstagabend bereits Gruppen, die einen Akt fünf für nächsten Samstag planen. «Schachmatt», lautet der vielsagende Titel des Facebook-Events. Bereits 27'000 Personen geben an, sich für den Protest zu interessieren.
Macron seinerseits will am Montag aus seiner Stille treten und eine Ansprache halten. Wie sich die Lage der Nation danach entwickeln wird, darüber lassen sich keine verlässlichen Prognosen stellen. Sicher ist, um die Revolution der «Neo-Sansculottes» zu stoppen, wird Macron in seiner Trickkiste wühlen müssen.