Ein brutales Video schockiert Brasilien. Die Aufnahmen von Sicherheitskameras zeigen Luís Felipe Manvailer, wie er seine Frau Tatiane Spitzner schlägt und von der Garage in den Lift zerrt. In der Wohnung, ausserhalb des Sichtbereichs der Kameras, prügelt Manvailer weiter. Spitzner stirbt.
Die Ausstrahlung des Videos in einer Fernsehsendung hat der brasilianischen Öffentlichkeit drastisch vor Augen geführt, dass Gewalt gegen Frauen ein tödliches Problem ist. Und es ist nicht ein Problem, das sich auf Brasilien beschränkt.
Brisa Barrionuevo ist erst fünf Jahre alt, und doch ist schon ein Gesetz nach ihr benannt worden: Die «Ley Brisa» ist im Juli dieses Jahres in Argentinien verabschiedet worden. Das Gesetz bestimmt, dass Kinder von ermordeten Frauen bis zu ihrem 21. Geburtstag eine monatliche Zulage in der Höhe von rund 300 Franken erhalten. Ausserdem ermöglicht es ihnen kostenlosen Zugang zu medizinischer und psychologischer Hilfe.
Brisa gehört zu den rund 2100 Kindern, die von dem Gesetz profitieren werden. Ihre Mutter, Daiana Barrionuevo, verschwand vor vier Jahren; die Leiche der 24-Jährigen wurde Wochen später in einem Fluss gefunden. Barrionueva zahlte mit ihrem Tod dafür, dass sie ihren gewalttätigen Freund verlassen wollte.
“LEY BRISA” | @DiputadosAR aprobó la #ReparaciónEconómica a hijos de víctimas de femicidio. Obtuvo una adhesión unánime en el recinto. Es un avance en la lucha contra la violencia de género. #LeyBrisa. ENTRÁ A LA NOTA 👉🏾https://t.co/Y3SXn1GIJA pic.twitter.com/1P4frnU9Ts
— Diputados Argentina (@DiputadosAR) 5. Juli 2018
Das neue Gesetz ist ein grosser Erfolg der Nichtregierungsorganisation La Casa del Encuentro und der Protestbewegung Ni Una Menos. Sie kämpfen gegen die mörderische Gewalt gegen Frauen, die besonders Lateinamerika und die Karibik wie eine Seuche heimsucht: Femizid.
Alle 30 Stunden wird in Argentinien laut La Casa del Encuentro eine Frau ermordet. Im Jahr 2016 waren es 254 – und diese erschreckende Zahl wirkt geradezu moderat im Vergleich zu den viel kleineren Staaten Honduras und El Salvador. Dort wurden 466 beziehungsweise 349 Frauen umgebracht. In ganz Lateinamerika sind es mehr als 12 Frauen jeden Tag. Dazu kommen, was oft vergessen wird, zahlreiche Mordversuche, die in der Statistik nicht erscheinen.
Es sind zwei Faktoren, die das Problem in Lateinamerika verschärfen: die Kultur des «Machismo» und die durch den Drogenhandel genährte organisierte Kriminalität. In der vom Machismo geprägten lateinamerikanischen Kultur betrachten viele Männer Frauen als ihren Besitz, mit dem sie tun können, was immer sie wollen. Oft beschränkt sich das auf Kleidervorschriften oder Handykontrollen. Aber in manchen Fällen äussert sich der Männlichkeitswahn gewalttätig, in häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch und Mord.
Die organisierte Kriminalität, die in mehreren lateinamerikanischen Staaten – namentlich in Mexiko – weite Teile der Gesellschaft und der Institutionen korrumpiert hat, stellt ein massives Problem dar. Die Banden, die dieses brutale, aber lukrative Geschäft betreiben, kennen grausame Rituale – darunter auch Frauenmorde. Junge Männer, die in einer Bande aufgenommen werden oder in deren Rangfolge aufsteigen wollen, müssen sich beweisen. Bekannteste Beispiele für solche Banden sind die berüchtigten «Maras in Mittelamerika, allen voran die «Mara salvatrucha» oder die «Mara 18».
Der ausufernden Gewalt fallen zwar weit mehr Männer als Frauen zum Opfer – in Lateinamerika kommen mehr Menschen durch Gewalttaten um als in der ganzen Welt durch Kriege. Unter den 20 Ländern mit der höchsten Tötungsrate weltweit befanden sich im Jahr 2016 nicht weniger als 15 in Lateinamerika und der Karibik. Besonders das sogenannte Nördliche Dreieck – es besteht aus den Staaten Guatemala, Honduras und El Salvador – gilt als gefährlichste Region der Welt ausserhalb von Kriegsgebieten.
Doch in Lateinamerika und der Karibik ist auch die Rate sexueller Gewalt gegen Frauen ausserhalb von Beziehungen weltweit am höchsten. Drei von zehn Ländern mit den höchsten Vergewaltigungsraten der Welt liegen laut einem UNO-Bericht in der Karibik.
Sehr viele Frauen, die der Männergewalt zum Opfer fallen, werden aber von ihren Partnern oder Ex-Partnern umgebracht. Manchmal töten sie die Frauen vor den Augen ihrer Kinder, wie bei einem besonders abscheulichen Fall in Argentinien vor drei Jahren, als ein Mann seiner Ex-Frau die Kehle durchschnitt, während ihre Kinder dabei waren.
Gegen die Welle der Femizide formieren sich in ganz Lateinamerika Protestbewegungen. Ein Beispiel dafür ist Ni Una Menos – die Bewegung ist nicht nur in Argentinien aktiv, sondern auch in weiteren Ländern der Region, so in Chile. Demonstrantinnen – und auch Demonstranten – tragen den Protest auf die Strasse, von Chile bis Mexiko.
Nicht zuletzt diesem Protest, der auch die Sozialen Medien nutzt, ist es zu verdanken, dass mittlerweile mehr als ein Dutzend lateinamerikanische Staaten – darunter Argentinien, Bolivien, Brasilien, El Salvador, Nicaragua und Peru – Femizid als eigenen Straftatbestand im Gesetz verankert haben. Doch Fortschritt auf dieser juristischen Ebene allein wird das Problem nicht lösen. Auf lange Sicht kann sich die Situation nur verbessern, wenn die Machokultur an Einfluss verliert.
Lateinamerika ist allerdings nicht die einzige Region der Welt, in der Frauen gefährlich leben. Für Südafrika stellte eine Studie im Jahr 2004 fest, dass durchschnittlich alle sechs Stunden eine Frau von ihrem Partner getötet wird. Zugleich weist das Land weltweit die höchste Vergewaltigungsrate auf.
Prekär ist die Lage der Frauen aber besonders in Indien: Der Femizid trifft hier vornehmlich die ungeborenen Mädchen. Jedes Jahr werden Millionen von Mädchen abgetrieben – und eine unbekannte Anzahl von weiblichen Säuglingen umgebracht – , weil Mädchen traditionell als Last betrachtet werden. Für sie muss bei der Heirat eine Mitgift bereitgestellt werden. Dies ist auch für frisch verheiratete Ehefrauen gefährlich: Tausende werden Opfer von sogenannten Mitgiftmorden, wenn der Ehemann oder dessen Familie mit der Mitgift nicht zufrieden sind.
Durch die massenhafte Abtreibung weiblicher Föten hat sich das Geschlechterverhältnis in Indien – aber auch in China – bereits massiv verschoben. 2014 wurden pro 1000 Jungen lediglich 887 Mädchen geboren – die natürliche Zahl wäre 940. Der enorme Männerüberschuss, der daraus resultiert, führt wiederum zu verstärkter Gewalt gegen Frauen: Pro Tag werden in Indien mehr als 100 Vergewaltigungen angezeigt.
Wie in Lateinamerika und Südafrika sind auch in Indien tief verwurzelte patriarchale Vorstellungen vom Wert der Geschlechter am Werk. Und wie dort wird aus diesen Vorstellungen oft tödliche Realität.