Unser Dasein ist geprägt von Hoffnungen, Sehnsüchten und Ängsten. Angetrieben wird unser Leben von vielfältigen Kräften. Die stärksten sind die Triebe: der Überlebenstrieb, der Selbsterhaltungstrieb, der Sexualtrieb.
Diese existentiellen Kräfte entwickeln gern ein Eigenleben. Es fällt uns dann oft schwer, sie zu kontrollieren oder mit unserem Bewusstsein zu steuern, weil sie übermächtig und genetisch tief verankert sind.
Es gibt einen weiteren «Trieb», der oft noch stärker ist: die religiöse oder spirituelle Energie. Beim Glauben und der Religion bewegen wir uns in einem speziellen Bereich, denn es geht um alles oder nichts: um Metaphysik und Transzendenz. Um Fragen des Seins und der Existenz. Um die Ewigkeit oder das Verderben. Das Letzte und das Höchste.
Diese Kategorien überfordern unser Bewusstsein, unser schwaches, krankheitsanfälliges, triebgesteuertes und sterbliches Wesen. Das Wissen um den schleichenden Zerfall und den eigenen Tod löst existentielle Ängste aus, die uns lähmen oder Depressionen verursachen können.
Das Drama der Menschheit besteht darin, dass es keine Heilsgewissheit gibt. Wenn es um die entscheidenden Fragen im Leben geht, bleiben nur der Glaube oder die Spekulation. Wir ertragen diese Ungewissheit schlecht, sie ist eine narzisstische Kränkung.
Deshalb schlummert in den Religionen der Kern der Radikalisierung. Sie sind der Nährboden, auf dem der Extremismus gedeiht. Denken wir nur an die kollektiven Sektenmassaker oder an die Selbstmordkommandos islamistischer Terroristen.
Dabei sollte der Glaube Hoffnung und Halt geben, Trost spenden, Ängste nehmen, Sinn und Lebensinhalt stiften. So ziemlich alles, was uns wichtig ist. Doch all dies beruht lediglich auf Annahmen und Hypothesen.
Wir sind gezwungen, auf einen Gott oder auf Götter zu bauen, deren Existenz wir nicht beweisen können. Kommt hinzu, dass das Konzept eines allmächtigen Schöpfers angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht plausibel ist.
All das sind existentielle Bedrohungen, die wir gern verdrängen. Je grösser die Verunsicherung, desto radikaler die Flucht in die religiösen Sphären. Diese Flucht führt oft zur Verblendung und Obsession und kann die Qualität eines Wahns entwickeln.
Dieses Phänomen ist deshalb verblüffend, weil es sich bei der religiösen Energie nicht um einen Trieb handelt, sondern um eine kulturelle Errungenschaft. Dies macht die Entwicklung der Religionen deutlich.
Unsere Urahnen beteten noch die Sonne an, sie kannten aber noch kein Heilskonzept im eigentlichen Sinn. Im Lauf der Geschichte verfeinerten sich die religiösen Ideen. Es entwickelten sich animistische Konzepte, naturreligiöse Ideen bis der Glaube an Götter mit übernatürlichen Kräften entstand.
Schliesslich kristallisierte sich der Monotheismus heraus mit einem Gott als allmächtigen Schöpfer. Er markiert die vorläufige Endstufe religiöser Entwicklungen.
Es scheint, als sei die Entwicklung der religiösen Konzepte am Ende der Fahnenstange angelangt. Vielleicht stecken die monotheistischen Religionen deshalb in einer Krise, vielleicht wächst deshalb die Zahl der Skeptiker. Der grösste Feind aller Religionen ist vermutlich die geistige und wissenschaftliche Entwicklung.
Wie auch immer: Würde sich die Menschheit mehr aufs Diesseits konzentrieren, als die Aufmerksamkeit dem Jenseits widmen, wäre die Welt ein friedlicherer Ort.