Nördlich von Budapest befindet sich Visegrad. In der Stadt an der Donau trafen sich 1991 die Regierungschefs von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, um die Visegrad-Gruppe zu gründen. Sie knüpften damit an eine alte Tradition an: Schon im 14. Jahrhundert hatten die Könige von Ungarn, Polen und Böhmen auf der Burg Visegrad eine enge Zusammenarbeit beschlossen.
Mit der Neugründung strebten die vier Länder des ehemaligen Ostblocks den Beitritt zur Europäischen Union an. 2004 wurde er mit der Osterweiterung vollzogen. 14 Jahre danach ist Ernüchterung eingekehrt. Im Westen gilt die Visegrad-Gruppe heute als Synonym für eine rechtsnationalistische Politik, die sich von den gemeinsamen europäischen Werten abwendet.
Diese Sichtweise wurde gestärkt durch den Wahlsieg von Ministerpräsident Viktor Orban am Sonntag in Ungarn. Trotz Korruptionsskandalen hat seine Partei Fidesz erneut eine Zweidrittelmehrheit im Parlament errungen. Die Wende, die nach dem sensationellen Sieg der Opposition bei einer Bürgermeisterwahl in einer Fidesz-Hochburg im Februar möglich schien, ist in weiter Ferne.
In Polen regiert die nationalkonservative Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) seit 2015 mit absoluter Mehrheit. Mit ihrer Justizreform riskiert sie Sanktionen durch die EU. In Tschechien setzte sich der skandalumwitterte, russlandfreundliche Staatspräsident Milos Zeman bei den Wahlen im Januar gegen einen prowestlichen Herausforderer durch. Im letzten Oktober hatte bereits der populistische Milliardär Andrej Babis die Parlamentswahl gewonnen.
Wie konnte es zur «Orbanisierung Ostmitteleuropas» (so die «Süddeutsche Zeitung») kommen? Ein Schlüssel ist die Flüchtlingskrise im Herbst 2015. Viktor Orban profilierte sich damals als Hardliner, der die Grenzen dicht machte, und wurde dafür von Rechtspopulisten – auch in der Schweiz – als «Retter Europas» gefeiert. Die Visegrad-Staaten wehren sich vehement gegen einen Verteilschlüssel für Flüchtlinge.
Im Wahlkampf setzte Orban ganz auf die Themen Migration und «Islamisierung», obwohl in Ungarn kaum Muslime leben. Für den Philosophen und Bürgerrechtler G.M. Tamas hat Orban aus diesem Grund erneut gewonnen: «Alle in Ungarn wissen, dass er korrupt ist und dass er schlecht regiert, dennoch stimmen viele Leute für ihn, weil sie es für wichtig erachten, dass er sie vor Einwanderern oder vor der Minderheit der Roma schützt.»
Die Gründe für die Entfremdung aber gehen tiefer. Es beginnt bei der Terminologie: Für viele im Westen gehören Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei zu Osteuropa. Dabei bilden sie das klassische Mitteleuropa, sie liegen im Zentrum des Kontinents. Der Kalte Krieg und der Eiserne Vorhang sorgten für eine scharfe Trennung, die mental bis heute nachwirkt:
Im Kalten Krieg erlebte der westliche Teil Europas durch die 68er Bewegung einen geistigen Quantensprung. Alte Denkmuster wurden aufgebrochen, die Gesellschaft wurde wesentlich freier. Der totalitäre Ostblock wurde von dieser Entwicklung höchstens ansatzweise erfasst, durch den Prager Frühling, und der wurde von den «Brudervölkern» des Warschauer Pakts niedergewalzt.
Bald 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs tun sich die Menschen im Osten noch immer schwer mit der «totalen Freiheit», wie es die Orban-kritische Schriftstellerin Noemi Kiss in der NZZ am Sonntag ausdrückte: «Wir können hier nicht über die Rechte von Transgender reden wie in Berlin. Wir sind an einem anderen Punkt.» Die Demokratie steht auf einem schwachen Fundament, was jenen Politikern in die Hände spielt, die sich zu Verteidigern der nationalen Identität stilisieren.
Ein weiteres Erbe des Kalten Kriegs ist der im Vergleich zum Westen sehr tiefe Ausländeranteil. In Polen, das als eines der homogensten Länder Europas gilt, beträgt er 0,4 Prozent. Die fehlende Erfahrung mit «Multikulti» führt zu Abwehrreflexen. Fremdenfeindlichkeit ist bekanntlich dort am grössten, wo am wenigsten Ausländer leben.
Die Abneigung gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, mit der Viktor Orban erfolgreich Wahlkampf betrieben hat, ist nur ein Aspekt dieser Befindlichkeit. Sie trifft auch die seit Jahrhunderten in Ungarn, Tschechien und der Slowakei lebende Roma-Minderheit. Trotz unbestreitbarer Verbesserungen werden Roma im Alltag nach wie vor häufig ausgegrenzt und diskriminiert.
Erst wurden die Mitteleuropäer vom Faschismus heimgesucht, dann vom Kommunismus. Das führt zu einer Opfermentalität in der Bevölkerung. Die Tatsache, dass man auch Mittäter war, wird ausgeblendet. Ein Paradebeispiel ist das von der polnischen Regierung verabschiedete Gesetz, das allen eine Strafe androht, die Polen eine Mitschuld am Holocaust zuschreiben. Dabei gibt es mehr als genug Beweise dafür, dass viele Polen sich als willige Helfer der Nazis betätigt hatten.
Seit dem Ende des Kalten Kriegs haben die ehemaligen Ostblock-Länder wirtschaftlich stark aufgeholt. Viele westliche Unternehmen haben Produktionsstandorte im Osten eröffnet. Dennoch ist das Wohlstandsgefälle gross. Daraus entsteht die Furcht, in der Middle-Income-Trap gefangen zu bleiben und den Anschluss an das westliche Niveau nie wirklich zu schaffen.
Hunderttausende vor allem gut qualifizierte Menschen haben die Konsequenzen gezogen und sind in den Westen ausgewandert. Wer in der Heimat bleibt, fühlt sich oft als «Europäer zweiter Klasse». Besonders deutlich wurde dies während der «Nutella-Krise». Vermeintlich gleichwertige Produkte würden in den östlichen EU-Ländern in minderwertigerer Qualität verkauft, lautete der auch von höchsten Regierungskreisen erhobene Vorwurf.
Der mentale Graben zwischen dem Westen und Ostmitteleuropa lässt sich nicht leicht überwinden. Positive Ansätze sind vorhanden. So sind sich die Visegrad-Staaten keineswegs in allen Punkten einig. Das betrifft etwa das Verhältnis zu Russland. Viktor Orban sucht die Nähe von Wladimir Putin, und auch Tschechiens Präsident Milos Zeman reist lieber nach Moskau als in die westlichen Hauptstädte.
Jaroslaw Kaczinsky hingegen, der Vorsitzende der PiS und «starke Mann» Polens, hasst Putin aus tiefstem Herzen. Er macht ihn verantwortlich für den Tod seines Zwillingsbruders, des damaligen Staatspräsidenten Lech Kaczinsky, beim Flugzeugabsturz in Smolensk 2009. Das Verhältnis zwischen Polen und Russland ist ohnehin seit Jahrhunderten angespannt.
Ein «Sonderfall» ist auch die Slowakei. Sie ist Mitglied der Eurozone und damit stärker in die EU integriert als ihre Visegrad-Partner. Und sie hat eine funktionierende Zivilgesellschaft. Das zeigte sich nach der Ermordung des Journalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten, als Ministerpräsident Robert Fico von Massenprotesten zum Rücktritt gezwungen wurde.
Solche Entwicklungen machen Hoffnung, dass sich der Graben mit der Zeit schliessen wird. Umfragen zeigen, dass besonders die Jugend in den Visegrad-Staaten proeuropäisch denkt. Hier sollte die EU ansetzen und die Zivilgesellschaft weiter unterstützen. Es ist der zukunftsträchtigere Weg als Sanktionen, wie sie nun wegen der Justizreform gegen Polen erwogen werden.