«Besuchen Sie Europa (so lange es noch steht)», hiess ein Song, den die Band Geier Sturzflug auf dem Höhepunkt der Neuen Deutschen Welle in den frühen 1980er Jahren veröffentlichte. Ein US-Reiseveranstalter hatte mit diesem Slogan für Ferien in Europa geworben. Es war eine zynische Anspielung auf die damaligen Ängste vor einem Atomkrieg.
Heute lässt sich der Song als Metapher auf die Furcht vor einem Zerfall der Europäischen Union und einer Rückkehr zum Nationalismus interpretieren. Zu Beginn dieses Jahres sah es in der Tat düster aus. In mehreren europäischen Ländern standen Wahlen bevor. Würde der populistische Furor, der Donald Trump ins Weisse Haus spediert hatte, den alten Kontinent zerreissen?
Der renommierte Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff sprach im Interview mit der «Handelszeitung» von einer Welle des Populismus, der uns noch lange begleiten werde. «Der Brexit war der Startschuss, jetzt haben wir Trump – und andere Länder werden folgen, möglicherweise Italien oder Frankreich.»
Am Ende des «Superwahljahres» lässt sich bilanzieren: Die rechtspopulistische Welle hat Europa nicht überrollt. In den Niederlanden und in Frankreich bleiben die Rechten in der Opposition. In Österreich sind die Freiheitlichen an der Regierung beteiligt, aber nicht wie erhofft als Kanzlerpartei, sondern als Partner von ÖVP-Jungstar Sebastian Kurz.
Europa steht definitiv noch. Für eine Entwarnung ist es dennoch zu früh. Die Herausforderungen, mit denen der Kontinent konfrontiert ist, bleiben gross, auch wenn sich die Lage im Vergleich mit den beiden letzten Jahren entspannt hat, als Europa an mehreren Fronten unter Druck stand.
Den vielleicht wichtigsten Satz dieses Jahres sprach die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende Mai in einem Bierzelt in Bayern aus: «Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen.» Es war ihr ernüchterndes Fazit aus der Begegnung mit US-Präsident Donald Trump am NATO- und am G7-Gipfel. Die Zeiten, in denen sich Europa auf die USA verlassen konnte, sind vorbei.
Da traf es sich gut, dass sich kurz zuvor in Frankreich ein politisches Erdbeben ereignet hatte. Der 39-jährige Emmanuel Macron wurde zum jüngsten Staatspräsidenten in der Geschichte der Grande Nation gewählt. Dabei profitierte er von einer günstigen Konstellation: Seine Kontrahenten waren unwählbar oder zerlegten sich selbst, allen voran der einstige Topfavorit François Fillon.
In seinen wenigen Monaten im Amt hat der überaus selbstbewusste Macron Frankreich stärker verändert als seine Vorgänger Nicolas Sarkozy und François Hollande zuvor in zehn Amtsjahren. Der überzeugte Europäer hat auch Angela Merkel als Hoffnungsträger des Kontinents abgelöst. Im Vergleich mit seiner Dynamik wirkt die deutsche Bundeskanzlern ziemlich verbraucht.
Merkel ist zusätzlich geschwächt durch das Ergebnis der Bundestagswahl. Die Alternative für Deutschland (AfD) hat das Parteiengefüge durcheinander gebracht. Noch immer gibt es keine neue Regierung. Nach dem Scheitern der Gespräche über eine Jamaika-Koalition mit FDP und Grünen strebt die Kanzlerin eine Neuauflage der Grossen Koalition mit der SPD an. Die Sozialdemokraten aber zieren sich. Sie wollen sich nicht erneut «vermerkeln» lassen.
Das lange mustergültig stabile Deutschland als «Sorgenkind» Europas? Es ist das vielleicht verblüffendste Ergebnis dieses Wahljahres. Ähnlich unerwartet verlief die Unterhauswahl, die die britische Premierministerin Theresa May ansetzte. Sie wollte zur Sicherung des Brexit die Mehrheit ihrer Konservativen Partei ausbauen und schoss damit das Eigentor des Jahres.
Im Amt halten kann sich Theresa May nur, weil die Tories in zwei verfeindete Lager gespalten sind, die Anhänger eines «harten» und eines möglichst «weichen» Austritts aus der EU. Dafür trumpfte einer auf, den viele in seiner Partei noch kurz zuvor am liebsten ins Pfefferland spediert hätten: Labour-Chef Jeremy Corbyn überzeugte die Wähler mit klassischen Umverteilungs-Ideen.
Damit wurde Corbyn seinerseits zu einer Lichtgestalt für die europäische Linke, die auf dem Kontinent schwer gebeutelt wurde, insbesondere in Holland, Deutschland und Frankreich. Die Rückbesinnung auf linke Rezepte dürfte allerdings nicht überall so gut funktionieren wie in Grossbritannien, wo die wachsende Ungleichheit stärker zu spüren ist als auf dem Kontinent. Kein Ereignis illustriert dies deutlicher als der Grossbrand im Grenfell Tower im reichen Londoner Stadtteil Kensington.
Im wirtschaftlich brummenden Deutschland wird dieses Problem als weit weniger dringlich empfunden. SPD-Chef Martin Schulz versuchte im Wahlkampf mit «sozialer Gerechtigkeit» zu punkten und führte seine Partei zum schlechtesten Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik. In Frankreich schaffte es der «Altlinke» Jean-Luc Mélenchon nicht, die «Strasse» gegen Macrons Reformen zu mobilisieren.
Ein Schlüssel für den gebremsten Vormarsch der Populisten (rechte und linke) liegt in der Wirtschaftslage. Erstmals seit der Finanzkrise weist die Eurozone ein signifikantes Wachstum aus. Damit wurde auch die Eurokrise entschärft, wenn auch bei weitem nicht gelöst. Vom Aufschwung profitiert auch die Schweiz, denn die EU ist mit Abstand unser wichtigster Absatzmarkt.
Der zweite wichtige Faktor ist das Reizthema Migration. Die Länder Europas sind sich einig, dass sich ein Ausnahmezustand wie im Herbst 2015 nicht wiederholen darf. Dafür ist ihnen fast jedes Mittel recht. Dank dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei – deren Präsident sich zunehmend diktatorisch gebärdet – ist die Balkanroute mehr oder weniger unter Kontrolle. Auch der Zustrom über das Mittelmeer wurde eingedämmt.
Menschenrechtsorganisationen kritisieren die teilweise katastrophalen Zustände in den libyschen Flüchtlingslagern. Es entbehrt auch nicht der Ironie, dass gerade jene Kreise, die oft und gerne gegen den Islam wettern, die «Dreckarbeit» noch so gerne den islamischen Ländern Libyen und Türkei überlassen. Eine nachhaltige Lösung der Migrationsfrage ist ohnehin nicht in Sicht.
Europa setzt auf Abschreckung, was unschön und doch verständlich ist. Ohne die Flüchtlingskrise von 2015 und das damit verbundene Gefühl des Kontrollverlusts hätte es die AfD kaum in den Bundestag geschafft, schon gar nicht mit 11 Prozent Wähleranteil. Womit sie deutlich hinter den rechtsnationalen Parteien in den Nachbarländern liegt, unser 30-Prozent-SVP inbegriffen.
Die Verunsicherung angesichts der weltweiten Migrationsbewegungen wird nicht abnehmen. Gleiches gilt für Europas Wohlstandsmodell, das durch Digitalisierung und Globalisierung herausgefordert wird. Weshalb protektionistische Strömungen Auftrieb haben, nicht nur in Donald Trumps USA. Bereits macht ein neuer Begriff die Runde: Deglobalisierung.
Es ist keinesfalls sicher, dass ein solcher Backlash friedlich verlaufen wird. In Osteuropa haben mehrere EU-Mitgliedsländer mit der Demontage des Rechtsstaats begonnen. In Katalonien hat der Nationalismus zu einer Eskalation geführt. Der Rückzug hinter die vermeintlich sicheren Grenzen des Nationalstaats bleibt eine attraktive Option in einer unübersichtlich und chaotisch wirkenden Welt.
Für Europa aber kann die Kleinstaaterei keine Option mehr sein. Das wussten schon die «Gründerväter», die vor 60 Jahren mit den Römischen Verträgen den Grundstein für die heutige EU gelegt hatten. Ein gespaltenes Europa würde zum Spielball der Grossmächte, allen voran China und die USA. Und Russland, das seinen schleichenden Niedergang mit einer aggressiven Aussenpolitik zu «kompensieren» versucht.
Die Europäische Union wurde dieses Jahr gestärkt, aber über den Berg ist sie nicht. Es braucht weitere Schritte, die den Einigungsprozess gleichzeitig vertiefen und flexibler machen. Skizziert hat sie der neue Politstar Emmanuel Macron in seiner Europa-Rede Ende September an der Pariser Sorbonne. Über die Details kann man streiten, nicht aber über die Marschrichtung: «N’ayons pas peur, avançons.»
Haben wir keine Angst, legen wir los. 2018 hat Europa die Chance, dieser Devise nachzuleben. Man darf hoffen, dass der Kontinent sie nutzen wird.