In fünf Wochen tritt Grossbritannien aus der Europäischen Union aus. Noch immer zeichnet sich keine Lösung ab im Streit um den von Premierministerin Theresa May ausgehandelten «Scheidungsvertrag», den das Unterhaus im Januar wuchtig verworfen hatte. Die Unsicherheit setzt nicht zuletzt den britischen Unternehmen zu, die um den Zugang zum europäischen Markt bangen.
Der EU-freundliche Schatzkanzler Philip Hammond bezeichnete den Brexit am Donnerstag in einem BBC-Interview als «grosse schwarze Wolke» über der Wirtschaft des Landes. Er warnte eindringlich vor den Gefahren eines No-Deal-Brexit am 29. März. Die Austrittsdebatte zieht aber nicht nur die Wirtschaft in Mitleidenschaft, sondern auch das politische System im Königreich.
Diese Woche kam es in den beiden grossen Parteien zum Knall. Am Dienstag traten sieben Abgeordnete aus der Labour-Partei aus, darunter Chuka Umunna. Der Sohn eines Nigerianers war ein kommender Mann der Partei. Am Mittwoch folgten eine weitere Labour-Frau sowie drei Abgeordnete der Konservativen Partei. Sie schlossen sich zu einer neuen unabhängigen Fraktion zusammen.
Die elf «Abtrünnigen» vereint ihre Ablehnung des Brexit sowie der Entwicklung in ihren Parteien, in denen zunehmend die radikalen Kräfte den Ton angeben. Bei den Tories sind es die Brexit-Hardliner, die Theresa May vor sich her treiben. In der Labour-Partei werden gemässigte Abgeordnete von den Anhängern des altlinken Parteichefs Jeremy Corbyn bedrängt.
Der Brexit-Exodus ist nicht nur für sich ein kleines Erdbeben. Er wird von Nebengeräuschen begleitet. Dafür besorgt war unter anderem Anna Soubry. Die nun ausgetretene Konservative hat aus ihrer proeuropäischen Haltung nie einen Hehl gemacht. Sie leitet gemeinsam mit Chuka Umunna die «People's Vote»-Kampagne, die sich für eine zweite Brexit-Abstimmung einsetzt.
Am Mittwoch unterstellte sie Theresa May in der BBC-Sendung «Newsnight» fremdenfeindliche Motive. Sie lehne die Zugehörigkeit zum EU-Binnenmarkt einzig wegen der Personenfreizügigkeit ab, meinte Soubry: «Ehrlich gesagt denke ich, dass sie ein Problem mit der Einwanderung hat.» Hinweise darauf habe es schon während Mays Amtszeit als Innenministerin gegeben.
Der Vorwurf wiegt schwer. Tatsächlich aber hat sich die Premierministerin seit der Abstimmung vor mehr als zweieinhalb Jahren nie ernsthaft um einen breiten Konsens zum Brexit bemüht, sondern primär die Hardliner in ihrer Partei umgarnt. Anna Soubry und die beiden anderen «Abtrünnigen» Heidi Allen und Sarah Wollaston werfen Theresa May deshalb «erbärmliches Versagen» vor.
Bei Labour drehen sich die internen Querelen neben dem Brexit vor allem um die Antisemitismus-Kontroverse, von der die mitgliederstärkste Partei Westeuropas seit einiger Zeit verfolgt wird. Luciana Berger, eine jüdische Abgeordnete aus Liverpool, sah sich in den sozialen Medien wiederholt mit Attacken aus den eigenen Reihen konfrontiert, weshalb sie sich den «Deserteuren» angeschlossen hat.
Die Vorwürfe fallen letztlich auf den Parteichef zurück. Jeremy Corbyn war seit dem Beitritt 1973 ein Gegner der EU-Mitgliedschaft Grossbritanniens. Er gilt deshalb als verkappter Brexiteer. Ausserdem neigt er zu der in linken Kreisen verbreiteten einseitigen Parteinahme für die Palästinenser, bei der die Grenzen zwischen Israelkritik und Judenhass fliessend sind.
Selbst Kritiker attestieren Corbyn, er sei persönlich kein Antisemit. Im Umgang mit der Kontroverse wie beim Brexit aber macht er alles andere als eine glückliche Figur. Er verhält sich wie immer, wenn seine einbetonierten Überzeugungen erschüttert werden: wegschauen, abwiegeln, lavieren. So wehrt sich Corbyn trotz innerparteilichem Druck stur gegen ein neues Brexit-Referendum.
Die Austritte der elf Abgeordneten kamen folglich nicht aus heiterem Himmel. Sie haben sich abgezeichnet. Und weitere könnten folgen. Die Ex-Konservative Heidi Allen sagte am Mittwoch, rund 100 Kollegen seien über den Kurs ihrer Partei frustriert. Das wäre ein Drittel der Fraktion. Zwei prominente Tories erklärten, sie würden bei einem No-Deal-Brexit ebenfalls austreten.
Von EU-freundlichen Labour-Politikern gibt es ähnliche Wortmeldungen. Damit geriete das auf zwei starke Parteien zugeschnittene britische System weiter in Schieflage. Die neue Fraktion hat bereits jetzt gleich viele Abgeordnete wie die Liberaldemokraten. Deren Parteichef Vince Cable meinte, bei Tories wie Labour seien «sehr radikale Veränderungen im Gange».
Sie sind letztlich eine Folge der Brexit-Abstimmung von 2016, wie die Politologin Sara Hobolt von der London School of Economics gegenüber CNN erklärte: «Man identifiziert sich heute eher als Brexiteer oder Remainer denn als Anhänger eine Partei.» Beide Seiten würden einander zutiefst misstrauen, meinte die Professorin, was einem Bruch mit der alten Parteipolitik entspreche.
Diese Entwicklung kann nur beunruhigen. Der Brexit treibt das Vereinigte Königreich in Richtung einer tiefen Polarisierung, wie man sie in den USA erlebt. «Beim Brexit ging es eigentlich nie um die EU-Mitgliedschaft, sondern um die Frage, ob man in einem progressiven, globalen UK leben oder sich in ein traditionelleres Land zurückziehen will», sagte Rob Ford von der Universität Manchester zu CNN. Er veröffentlicht demnächst ein Buch mit dem Titel «Brexitland».
Die Parteiaustritte dürften deshalb nur ein Vorgeschmack sein auf das, was noch kommt. Nur eine scheint davon unbeeindruckt zu sein: Theresa May. Am Mittwoch weilte sie einmal mehr zu einer erfolglosen Verhandlungsrunde in Brüssel. Eine Woche später muss sie im Unterhaus erneut Bericht erstatten. Dann dürfte es zu einem weiteren Showdown in Sachen Brexit kommen.
Die Lage hat sich durch die neue Fraktion der Unabhängigen noch einmal verkompliziert. Falls nur drei weitere Torys die Partei verlassen, verfügt Theresa May auch mit den nordirischen Unionisten nicht mehr über eine Mehrheit im Parlament. Neuwahlen wären wohl unvermeidlich, und das wenige Wochen vor dem EU-Austritt.