«Anora»? Im Ernst, «Anora» soll auf dem Weg sein, bei den Oscars einen Award für den besten Film, die beste Regie oder die beste Hautdarstellerin abzuräumen? Ja, ist so! Die einen finden den Film über eine amerikanische Stripperin, die sich in einen russischen Oligarchen-Sohn verliebt, lustig, erfrischend, charmant, die anderen sinnleere Kackscheisse. Für mich war's, als würde ich eine «Bachelor»-Dokufiktion schauen, ähnliches Personal, identisches Mindset, identisches zoologisches Verhalten, identische Kommunikationsqualität.
Doch die Jurys der grossen Filmpreise, die den Weg für die Entscheidungen am kommenden Wochenende ebnen, sehen in dem Film etwas Grosses. Und nicht wenige etwas noch Grösseres als im Post-Holocaust-Epos «The Brutalist» um einen genialen, tragischen Architekten, das lange der einzig wahre Anwärter auf die Top-Oscars zu sein schien. Höchstens in Frage gestellt von «Conclave», dem Papstwahl-Thriller mit den intriganten Kardinälen. Und gaaanz langsam etwas eingeholt von «Like a Complete Unknown», dem Biopic über einen genialen Musiker namens Dylan. «Oppenheimer», der siebenfache Gewinner vom letzten Jahr, lässt seine vielen Bros grüssen.
Aber wie sieht nun die allgemeine Lage vor der Nacht der Nächte aus? Wer hat schon was gewonnen und wie gross sind die Chancen auf Academy Awards? Voilà: Nach den Golden Globes (GG), den Writers Guild of America Awards (WGA), den Critics' Choice Awards (CCA), den Producers Guild of America Awards (PGA), den British Academy Film Awards (BAFTA), den Directors Guild of America Awards (DGA), den Independent Spirit Awards (ISA, keine offizielle Abkürzung) und den Screen Actors Guild Awards (SAG) sind dies die meistfavorisierten Filme, Darstellerinnen und Darsteller sowie Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren. Zum Verständnis: Nicht alle Awards verleihen Preise in allen Kategorien.
Klarer als alle anderen Kategorien dürften heuer die beste Nebendarstellerin und der beste Nebendarsteller sein, denn Kieran Culkin und Zoe Saldaña (quasi die Letzte, die dem «Emilia Pérez»-GAU entkommen ist) dominieren schlichtweg alles – und dies berechtigt. Culkin wurde hier schon genug gelobt. Saldaña, die eine Anwältin spielt, die einsieht, dass der Kampf fürs Gute nur mit viel ungutem Opportunismus zu führen ist, war bereits vor dem Skandal um ihre Kollegin Karla Sofía Gascón das Beste an «Emilia Pérez», ein düsteres Kraftwerk zwischen Entschlossenheit und Resignation.
Timothée Chalamet dürfte bei den Hauptdarstellern nicht an Adrien Brody vorbeikommen, auch wenn die Chalamet zugeneigten SAG-Mitglieder einen Grossteil jener Gruppe ausmachen, die bei den Oscars die Schauspielpreise vergeben darf.
Wenn Demi Moore keinen Oscar gewinnt, ist dies die grösste Ungerechtigkeit der Filmbranche 2025 und fertig, bei allen magentechnischen Vorbehalten ist klar: «The Substance» ist der originellste, überraschendste Film des Jahres mit dem explosivsten Comeback seit Jahrzehnten. Trotzdem muss man zerknirscht anerkennen, dass in dieser Kategorie alles offen ist zwischen Moore und Madison.
Die Chancen, dass Jesse Eisenberg den Original-Drehbuch-Oscar für den vom Schweizer Publikum sträflich vernachlässigten «A Real Pain» gewinnt, sind sehr, sehr intakt. Und auch die Auszeichnung von Peter Straughan («Conclave») fürs adaptierte Drehbuch dürfte in ewigen römischen Stein gemeisselt sein. Übrigens: Falls sich jemand gefragt hat, ob das möööglicherweise minimal aufgesetzt wirkende Ende von «Conclave» tatsächlich von Robert Harris stammen kann – ja, das tut es. Er wollte damit seine vier Kinder beeindrucken. Er hätte es besser unterlassen.
Bei den beiden wichtigsten Kategorien ist vieles offen. «Wicked» dürfte eher keine Chancen haben. Doch die Wahl zwischen A wie «Anora», B wie «The Brutalist» und C wie «Conclave» (vielleicht bald der aktuellste aller heurigen Oscar-Filme?) dürfte die letzten Minuten der heurigen Award-Feier noch einmal so spannend wie ein echtes Konklave machen.
Wir berichten in der Oscarnacht auf den 3. März live ab 0.30 Uhr. Die Show gibt es ab 1.00 Uhr u.a. auf SRF2, ORF1, Pro7 und Disney+ zu sehen, davor gibt es unterschiedlich lange Red-Carpet-Berichterstattungen.
Moderiert wird die Show im Dolby Theatre von Conan O'Brien.
Die einzelnen Awards werden u.a. von folgenden Stars verliehen: Penélope Cruz, Elle Fanning, Whoopi Goldberg, Halle Berry, Scarlett Johansson, John Lithgow, Amy Poehler, Bowen Yang, June Squibb, Joe Alwyn, Sterling K. Brown, Willem Dafoe, Ana de Armas, Lily-Rose Depp, Selena Gomez, Goldie Hawn, Connie Nielsen, Ben Stiller, Oprah Winfrey, Dave Bautista, Harrison Ford, Gal Gadot, Andrew Garfield, Samuel L. Jackson, Margaret Qualley, Alba Rohrwacher, Zoe Saldaña und Rachel Zegler.