In der ersten Novemberwoche griff das Grenzwachtkorps an der Schweizer Ostgrenze 670 Flüchtlinge auf, darunter 495 Personen aus Afghanistan, wie die neusten Zahlen der Eidgenössischen Zollverwaltung (EZV) zeigen. Hinzu kommen 156 afghanische Flüchtlinge, die andernorts registriert wurden. Afghanen reisten viermal so zahlreich an wie die Syrerinnen und Syrer.
Im Oktober verzeichnete das Staatssekretariat für Migration (SEM) 1533 Asylgesuche von Afghaninnen und Afghanen, wie Staatssekretär Mario Gattiker der Nachrichtenagentur SDA sagte. Gemäss Asylstatistik stammten bis Ende September die meisten Asylgesuche dieses Jahres nach wie vor aus Eritrea: Es waren 8927, davon 5127 im 3. Quartal. Flüchtlinge aus Syrien stellten 2337 Gesuche (1556 im 3. Quartal). Von afghanischen Flüchtlingen, die die drittgrösste Gruppe stellten, wurden 1929 Gesuche registriert (1373 im 3. Quartal). Auf diese drei Länder entfielen zusammen knapp zwei Drittel aller Asylgesuche.
Nach Deutschland kabisher rund 67'000 Afghanen, 31'000 davon allein im Oktober. Damit sind sie in Deutschland nach den Syrern die zweitgrösste Gruppe unter den Asylbewerbern. men dieses Jahr
Der Hauptgrund für die steigenden Zahlen dieser Flüchtlingsgruppe liegt vermutlich darin, dass sie in die Schweiz ausweichen. Die deutsche Regierung will Afghanistan trotz der bedenklichen Sicherheitslage zum sicheren Herkunftsland erklären und wieder Flüchtlinge dorthin abschieben. In der Schweiz hingegen dürfen die meisten Afghanen bleiben.
Generell ist eine Tendenz zu erkennen, dass Deutschland und Schweden, die beiden primären Ziele vieler Flüchtlinge auf der Balkanroute, sich inzwischen weniger attraktiv für Asylbewerber zu machen versuchen. In Deutschland müssen sie zudem relativ lange auf einen Asylentscheid warten.
Der SVP-Asylexperte Heinz Brand sieht laut einem Artikel im Tages-Anzeiger einen weiteren Grund für die steigende Zahl von afghanischen Flüchtlingen darin, dass in Afghanistan gegenwärtig im grossen Stil Pässe ausgestellt würden, um die Ausreise nach Europa zu ermöglichen. Auch die Tatsache, dass in Griechenland ein Streik von Fährmitarbeitern beendet wurde, könnte den Strom der Flüchtlinge auf der Balkanroute – darunter viele aus Afghanistan – weiter anschwellen lassen.
Viele Kantone haben Zivilschutzanlagen bereitgestellt, die zum Teil bereits bezogen wurden. Die Zahl der Unterbringungsplätze in den stark ausgelasteten Empfangszentren des Bundes wurden seit dem Frühjahr von 2300 auf 3400 erhöht. Mit dem neu eröffneten Bundeszentrum Glaubenberg und mehreren Zivilschutzanlagen werden laut SEM rund 4300 Plätze verfügbar sein. Der Kanton St.Gallen bereitet sich mit einem Notfallkonzept auf die Ankunft von bis zu 1000 Personen pro Tag vor.
Der Bund verfügt über ein Notfallkonzept, das auch einen Sonderstab vorsieht. Hans-Jürg Käser, der Präsident der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz (KKJPD), forderte am Wochenende, diesen Sonderstab nun einzuberufen. Die KKJPD diskutiert den Vorschlag am Donnerstag und könnte dann eine entsprechende Empfehlung an den Bundesrat abgeben, der die Einberufung auf Antrag von Justizministerin Sommaruga beschliessen könnte.
Käser regte zudem an, Flüchtlingen aus Afghanistan nur noch vorläufigen Schutz und kein Asyl mehr zu gewähren. Bei den meisten Gesuchen wird allerdings ohnehin nur eine vorläufige Aufnahme gewährt (siehe nächster Punkt).
In der Schweiz sind Wegweisungen nach Afghanistan grundsätzlich zulässig und auch möglich. Die Zusammenarbeit mit Afghanistan im Bereich Rückkehr stützt sich auf ein Rückübernahme-Abkommen. «Wir verstärken nun die Kooperation mit den deutschen Behörden sowie Frontex, um allfällige Synergien bei Rückführungen zu nutzen», sagte Gattiker. Gemäss SEM-Sprecherin Lea Wertheimer können solche Entscheide aber nicht pauschal gefällt werden. Afghanen könnten je nach Person und ihrem Hintergrund in einer bestimmten Region bedroht sein oder nicht.
Da viele Personen aufgrund der allgemeinen Lage aus dem Land fliehen, sei die Anerkennungsquote bei Asylgesuchen aus Afghanistan vergleichsweise gering. Im laufenden Jahr belief sie sich bisher auf lediglich 11,3 Prozent, weniger als in anderen europäischen Staaten. Dagegen sei aber die Schutzquote hoch: 88,4 Prozent kämen in den Genuss der vorläufigen Aufnahme.
Afghanistan ist seit der sowjetischen Invasion 1979 nie mehr wirklich zur Ruhe gekommen. Nach wie vor wütet ein Guerillakrieg zwischen den vom Westen unterstützten Regierungstruppen und den islamistischen Taliban. Im Land selbst sind mehr als 800'000 Menschen auf der Flucht; in den Nachbarländern Iran und Pakistan halten sich 2,5 Millionen auf.
Das EDA warnt denn auch auf seiner Website unmissverständlich vor Reisen in das Land am Hindukusch: «Von Reisen nach Afghanistan und von Aufenthalten jeder Art wird abgeraten. Die Sicherheit ist nicht gewährleistet: Im ganzen Land besteht das Risiko von schweren Gefechten, Raketeneinschlägen, Landminen, Terroranschlägen, Entführungen und gewalttätigen kriminellen Angriffen einschliesslich Vergewaltigungen und bewaffneten Raubüberfällen.» Auch das deutsche Auswärtige Amt warnt dringend vor Reisen nach Afghanistan.
Erst vor kurzem gelang es den Taliban, die Stadt Kundus einzunehmen, die zuvor als weitgehend befriedet galt. Die afghanischen Truppen eroberten den ehemaligen Standort der Bundeswehr zwar zurück, doch die Gefechte führten zu einem weiteren Exodus von Flüchtlingen. Die deutsche Verteidigungsministerin Von der Leyen ist daher der Ansicht, es gelte die Beendigung des deutschen Afghanistan-Engagements zu überdenken. (dhr/sda)