Herr Professor Kopiez, Sie sind Experte für Fan-Gesang. Freuen Sie sich auf die Euro?
Reinhard Kopiez: Ehrlich gesagt, nein. Wenn man die Gesangs-Vielfalt aus den europäischen Ligen kennt, dann sind Europameisterschaften immer eine kleine Enttäuschung. Das Repertoire in den Stadien ist sehr bescheiden.
Wieso?
Man ist nicht eingesungen.
Eingesungen?
Ja, diese Repertoires muss man üben. Die Fans von Spitzenvereinen in der Bundesliga singen pro Spiel über 50 Lieder. Dazu kommen Klatschrhythmen und Kurzgesänge. Diese Menge ist eine grosse Herausforderung. Fan-Kurven sind keine Orte der Erholung.
An Spielen der Schweizer Nationalmannschaft werden maximal fünf verschiedene Lieder gesungen.
Da ist die Schweiz keine Ausnahme. Im Verhältnis zu den Ligen ist das Repertoire bei Länderspielen wohl etwa um den Faktor zehn geringer.
Ist mangelnde Übung der einzige Grund?
Nein, es gibt verschiedene Gründe. Das Publikum an Grossveranstaltungen ist grundsätzlich anders. Das sind Premium-Gäste, die sonst nicht oft ins Stadion gehen. Und dann gibt es da nur Sitzplätze und das führt zu Bequemlichkeit bei den Zuschauern.
Das Alkoholverbot in den Stadien hilft wohl auch nicht.
Die enthemmende Funktion des Alkohols fördert das Bedürfnis der Entindividualisierung in der Fan-Masse und damit den Gesang. Das ist klar.
Gibt es keine positiven Ausnahmen bei Fans von Nationalteams bezüglich Gesangsqualität?
Es gibt eine Ausnahme. Die Engländer. Die haben eine ganz andere Kultur. Eine andere Identifikation mit ihrem Team. Das ist unerreicht in Europa, auch was die Ausdauer betrifft. England kriegt den Pokal, das ist jetzt schon klar.
Das Aufgehen in der Masse hat auch negative Seiten. Es gibt rassistische und homophobe Fan-Gesänge.
Um die Jahrtausendwende war das in Ostdeutschland ein grosses Problem. Mittlerweile ist es dank guter Fan-Arbeit in der Bundesliga praktisch verschwunden. Natürlich wird immer wieder versucht, die Schwachstellen des Gegners aufzudecken. Doch in der Regel geschieht dies humorvoll.
Wie entstehen Fan-Gesänge?
Die Grundlage liefert immer ein bekannter Song. Denn Fanlieder sind nur im Text neu. Vor ein paar Tagen habe ich in Liverpool ein gutes Beispiel gehört. Die Fans haben die Melodie von «Life is Life», einen dreissig Jahre alten Pop-Song, genommen und singen nun darüber (singt) «Jür-gen-Klopp (Anm. Trainer von Liverpool) Nana Na Nana». (Lacht.) Die Fans haben einen sehr guten Instinkt für Massentauglichkeit.
Auch Verbände und TV-Stationen versuchen es mit Massentauglichkeit bei ihren Euro-Hymnen. Dieses Jahr in Deutschland mit Herbert Grönemeyer, in der Schweiz mit Gustav. Wieso funktionieren diese Lieder in den Stadien nicht?
Weil das verordnete Lieder sind. Da sind die Fans sehr sensibel. Der Fan-Gesang ist die letzte nicht durchkommerzialisierte Bastion im Fussball. Ich kenne nur einen erfolgreichen Versuch von aussen, einen Fan-Song zu kreieren: «Three Lions» der britischen Band Lightning Seeds mit der berühmten Liedzeile «Football is coming home».
In der Schweiz gibt es mit «Bring en hei» ein weiteres Beispiel. Anderes Thema: Sie sind Musikexperte. Hat Fangesang musikalische Qualität?
Man darf es nicht mit Belcanto verwechseln. Die Stimmqualität dient der Funktion – und da sind wir bei Charles Darwin – dem Gegner einen Schrecken einzujagen. Es muss rau klingen. Wir haben mal das Experiment gemacht, Fan-Gesänge von einem Tenor einsingen zu lassen. Da wurde sehr schnell klar, dass das so nicht funktioniert.
Stimmt es, dass es schon in der Antike Fan-Lieder gab?
Nein. Bei den Wagenrennen, der Formel 1 der Antike, gab es Fan-Phänomene. Fahnen, Groupies und auch Sprechchöre. Zum Beispiel gab es «Roma Regina»-Rufe. Aber keine Gesänge.
Seit wann dann?
Stunde «Null» des Fan-Gesangs sind Gerry and the Pacemakers mit ihrer Hymne «You’ll never walk alone» von Anfang der 60er-Jahre. Von da an versahen die Fans in England Pop-Lieder mit eigenen Texten.
Haben Sie sich je mit der Schweiz befasst?
Leider nicht. Aber die Grundmechanismen unterscheiden sich nicht. Das Melodien-Repertoire speist sich zu einem ganz grossen Teil in allen Ländern aus Pop, Oper und Karneval.
Singen Sie in Stadien?
Wenn ich in einer Kurve stehe, natürlich. Auch ich liebe den kurzzeitigen Kontrollverlust in der Masse.