Sommermärchen. Natürlich ist an dieser Stelle die Rede davon. Muss fast die Rede davon sein. Von der Weltmeisterschaft 2006, diesem so wunderbaren Fussballfest in Deutschland.
Die EM 2024 als Sommermärchen 2.0? Nun, wo nach der Welt dieses Mal Europa zu Gast bei Freunden ist?
Manchmal ist es simpel. Die Losung für ein Turnier, das über die Grenzen in positiver Erinnerung bleiben wird, lautet: Wetter gut, Deutschland gut – alles gut.
Damals, vor 18 Jahren, schickte der Gastgeber ein Team mit wenig Kredit an den Start. Unter Bundestrainer Jürgen Klinsmann und dank eines makellosen Starts – Philipp Lahm schoss schon in der 6. Minute des Auftaktspiels das herrliche 1:0 gegen Costa Rica – stürmte die DFB-Elf bis in den Halbfinal. Getragen von der Euphorie schrieb Klinsmanns Mannschaft ein Sommermärchen.
Nun sind die Erwartungen grösser, obwohl das stolze und erfolgsverwöhnte Fussball-Land zuletzt nichts mehr auf die Reihe kriegte. Vorrunden-Aus an den Weltmeisterschaften 2018 und 2022, Achtelfinal-Aus an der Europameisterschaften 2021, unsägliche Diskussionen über Captain-Binden, Mund-zu-Gesten und Marketingkonstrukte wie den Hashtag #zsmmn, der für Zusammenhalt zwischen Fans und #DieMannschaft sorgen sollte, letztlich aber genau zum Gegenteil führte.
Zwei gelungene Testspiele gegen EM-Topfavorit Frankreich und gegen die Niederlande im März reichten, um die Stimmung im Land zum Guten zu wenden. Es kann schnell umschlagen.
Nun freut man sich nördlich des Bodensees auf die Supertalente Florian Wirtz und Jamal Musiala und hofft, dass Torhüter Manuel Neuer auch mit 38 Jahren noch Weltklasse ist und dass der reaktivierte Taktgeber Toni Kroos in den letzten Spielen seiner Karriere so brillant auftritt wie bei Real Madrid. Manch einer verbindet mit dem Turnier vielleicht sogar die Hoffnung, dass ein gelungener Auftritt Deutschlands dabei mithelfen kann, Risse, die durchs Land gehen (Stichwort: AfD), zu kitten.
Die Schweizer Erwartungen sind so wie das vorhergesagte Wetter in Deutschland für die ersten Turniertage: eher bescheiden. Die krachende 1:6-Pleite im WM-Achtelfinal 2022 gegen Portugal ist noch nicht lange her, die viel zu zähe Qualifikationsphase ebenso noch im Kopf. Um ein Fussballspiel zu gewinnen, muss man Tore erzielen. Blöd, dass dies aktuell die grosse Schweizer Schwäche ist.
Klar ist dafür, dass Zehntausende die Nati begleiten werden. Nach Turnieren während der Corona-Pandemie (EM 2021) oder in der Ferne (WM 2014 in Brasilien, WM 2018 in Russland, WM 2022 in Katar) ist die EM in Deutschland nach acht Jahren und der EM 2016 in Frankreich wieder eine Gelegenheit, ein Fussballfest in der Nähe zu erleben.
Wer in den Norden reist, muss sich auf Sicherheitskontrollen einstellen. Die Angst vor Anschlägen ist angesichts der Weltlage präsent. Traurigerweise hat man sich daran gewöhnt, die Stimmung in den Stadien und an den Public Viewings wird daher trotzdem gut sein. Dem Fussball, der sich auf höchster Ebene immer weiter vom Sport des einfachen Mannes entfremdet, tut es gut, dass das wichtigste Turnier des Jahres zur Abwechslung mal wieder in einem echten Fussball-Land ausgetragen wird.
Als Topfavorit gilt angesichts seines Kaders, das kaum Schwächen aufweist, Frankreich. Didier Deschamps führte die «Equipe Tricolore» 2018 zum WM-Titel, an der EM 2016 und an der WM 2022 in den Final. Hoch im Kurs steht auch England, das zum x-ten Mal darauf hofft, die Durststrecke nach dem WM-Triumph 1966 beenden zu können.
Experten rechnen ausserdem mit dem ausgeglichenen Spanien, auch der Niederlande und Portugal wird einiges zugetraut. Und Italien gilt als Wundertüte, bei der zwischen frühem Ausscheiden und Titelverteidigung alles möglich scheint. Derweil träumt Österreich mit Fussballprofessor Ralf Rangnick an der Seitenlinie davon, ein neues Griechenland (Europameister 2004) zu werden. Und Georgien ist dank der Aufblähung des Teilnehmerfelds erstmals an einem grossen Turnier dabei.
Und Deutschland? Der erst 36-jährige Bundestrainer Julian Nagelsmann hat es in kurzer Zeit geschafft, dass nicht mehr bloss elf herausragende Fussballer auf dem Platz stehen, sondern dass diese, auch mit den Ersatzspielern, eine Einheit bilden. Tatsächlich eine Mannschaft eben.
Dem EM-Auftakt kommt eine hohe Bedeutung zu. Mit einem diskussionslosen Sieg gegen Schottland kann Deutschland nicht nur den Grundstein zum Weiterkommen in der Gruppe mit der Schweiz und Ungarn legen. Es kann auch eine Euphorie im Land entfachen. Und die kann die DFB-Auswahl, gepaart mit dem notwendigen Wettkampfglück, weit tragen.
"Damals, vor 18 Jahren..."
Läck, fühle ich mich grade alt.
Gerade beim Busbahnhof in Zürich vorbeigelatscht und ein Grüppchen (noch müde) Schotten gesehen, die sich auf den Weg nach München machen. 😊