Zwischen Prüderie und Patriarchat: Die Erfindung des Stethoskops
Es war am an einem Septembertag im Jahre 1816, als der in Paris tätige Arzt René Théophile Hyacinthe Laennec zu einer jungen Patientin gerufen wurde, die, so teilte man ihm mit, allgemeine Herzsymptome zeige.
Nun wohnt das Herz tief in der Brust, gut geschützt hinter dem Brustbein, ein Umstand, der es dem Arzt ausnehmend schwierig macht, die Schwächen des Seelenorgans allein mit dem Auge zu erkennen. Es zeigt sich nicht und es äussert sich nur ganz leise, hinter Knochen, Haut, Busen und den ihn verhüllenden Stoff kann man seine Worte nicht hören.
Und was kam an Wohlbeleibtheit bei dieser Mademoiselle erschwerend hinzu! Ein Berg an üppigem Fleisch hatte sich zwischen das kranke Herz und Laennec geschoben und machten das ärztliche Handauflegen, das ganze forschende Abklopfen besagter Körperstelle zwecklos.
Was also sollte er tun, um dieser armen Frau zu helfen? Das Entblössen der Brust einer unverheirateten, noch unberührten Frau war gänzlich unzulässig, sein Ohr auf ihre nackte Haut zu legen, undenkbar. Solch anstössige Handlungen geziemten sich nicht.
Warum?, fragt man sich.
Was für Zeiten sind das, in denen die Sittsamkeit selbst medizinische Notwendigkeiten verhindert, wo die Etikette eher gewahrt zu werden scheint als das Leben an sich?
Um das zu verstehen, wollen wir an dieser Stelle den noch ratlosen Laennec verlassen, den 35-jährigen Bretonen, der im Begriffe steht, die Welt zu verändern, und uns einem Mann ganz anderen Formats zuwenden, einem 47-jährigen Korsen, der die Welt bereits verändert hat, und sich, exakt zur selben Zeit, an einem Septembertag 1816 nämlich, damit beschäftigt zeigt, den grössten Erfolg seines Lebens zu küren:
Ein Jahr zuvor hatte Napoleon die Schlacht bei Waterloo verloren. Die Briten nahmen ihn gefangen und verbannten ihn auf die südatlantische Insel St. Helena, während die Krone, die er sich einst eigenhändig aufs Haupt gesetzt hatte, auf jenes von Ludwig XVIII. zurückwanderte.
Damit begann in Frankreich die Restauration, die Brocken der alten Ordnung sollten wieder zusammengefügt, die Monarchie auf der Grundlage des Code Civil neu aufgebaut werden. Denn jenes Zivilgesetzbuch, das Napoleon 1804 ganz Europa bescherte, regelte nun bereits seit über zehn Jahren das gesellschaftliche Zusammenleben von Lissabon bis Warschau, zu lange, um es den Menschen wieder wegnehmen zu können. Inzwischen hatte es aufgeräumt mit den adligen Privilegien, hatte Schluss gemacht mit den Feudallasten für die Bauern, kurz, es hatte die von der Revolution eingeebnete Ständeordnung fixiert und die Männer mit denselben Rechten ausgestattet: Alle waren nun Bürger mit geschütztem Eigentum, frei in der Wahl ihrer Religion, ihres Gewerbes und ihrer Ehe, die den Händen der Kirche entrissen, zum zivilrechtlichen Vertrag unter staatlicher Aufsicht geworden war.
Für die Frauen aber bedeutete er eine radikale Entrechtung. Napoleons Werk entmündigte sie in allen Lebensbereichen, löschte ihre in der Revolution erkämpften Freiheiten mit einem einzigen Artikel aus:
So schuf Napoleon Ordnung, denn nach seinen Worten wäre «die Gesellschaft vollends in Unordnung geraten, wenn die Frauen aus dem Zustand der Abhängigkeit herausgetreten wären, in dem sie gehalten werden müssen. Ein Geschlecht muss dem anderen untertan sein.»
Der Mann wurde also zum obersten Souverän von Frau und Familie; Beschützen, Züchtigen und Befehlen fiel in seinen Aufgabenbereich, Gehorchen und Dulden in ihren. Für jeden Schritt in die Welt brauchte sie fortan seine Genehmigung.
Ab 1816 durfte sie sich auch nicht mehr scheiden lassen. Ihr Ehebruch war in jedem Fall strafbar, er durfte ihn nur nicht unter dem «ehelichen Dach» praktizieren. Beging sie wiederum selbiges, galt laut dem auf dem Code civil aufbauenden Strafgesetz:
Die Praxis war noch düsterer: Die Morde geschahen auf blossen Untreue-Verdacht hin – und die Gerichte urteilten grosszügig zugunsten der Männer.
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Napoleons Ordnung schrieb nicht nur patriarchale Traditionen fest, sondern legalisierte zugleich deren schlimmste Konsequenz: den Femizid.
Möglich wurde jene Rechtsentwicklung durch die neue bürgerliche Geschlechterordnung, welche die Ungleichheit der Frau an ihrer «Natur» festzumachen wusste.
Es waren Männer wie der Genfer Philosoph und Naturforscher Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), die das Wesen der Frau argumentativ den herrschenden Machtverhältnissen anpassten, als wären ihre Erkenntnisse objektive Wahrheiten. Männer wie der deutsche Philosoph und Erzieher Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), der die weibliche Unterordnung als Ausdruck eines «edlen Naturtriebs» wertete, mit dem sich die Frau aus freien Stücken dem Willen des Mannes fügte:
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Stelle die Ungleichheit als naturgemäss dar – und sie wird unumstösslich. Jene pseudobiologische Argumentationsweise wird im weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte noch Unaussprechliches anrichten; nicht nur als Instrument der Unterdrückung, sondern ebenso im Dienste der Vernichtung.
Das also ist die Welt, an der unser Arzt René Théophile Hyacinthe Laennec sein Ohr nicht zu nahe legen darf.
Eine Welt, in der Frauen zur Passivität verdammt sind, weil ihre Körper angeblich dazu gemacht sind; weil sie empfangen, statt zu erschaffen, weil sie nicht fordern, sondern befriedigen. Weil sie statt Lust Liebe empfinden. Und sollte sich bei der einen oder anderen doch ein Geschlechtstrieb bemerkbar machen, gilt sie als krank und verdorben.
Eine streng sittliche Welt, in der eine Berührung zwischen Mann und Frau, selbst eine zwischen Arzt und Patientin, schnell zu einem Skandal wird, der Existenzen zerstören kann.
In einem kurzen Moment der Ratlosigkeit haben wir ihn verlassen, doch inzwischen hatte ein Geistesblitz den Herrn Doktor durchfahren: Ein Blitz in Form eines Bildes zweier Jungen, die er einst beim Spaziergang im Innenhof des Louvre beobachtet hatte: Die beiden waren mit einem langen Stück Holz zugange, sie sendeten sich Signale zu, indem der eine sein Ohr an das eine Ende des Balkens legte und auf diese Weise vernahm, wie der andere am anderen Ende mit einer Nadel am Holz kratzte.
Dieses akustische Phänomen nun sollte es Laennec und allen ihm nachfolgenden Ärzten schliesslich ermöglichen, den gebotenen Abstand bei Herzuntersuchungen zu wahren:
Aus der Not gesellschaftlicher Zwänge heraus schuf dieser Herr also seinen revolutionären Brustschauer: Ein 30 Zentimeter langes Holzrohr, das Stethoskop (von altgriechisch stēthos ‹Brust› und skopein ‹schauen, untersuchen›), das, wie sich Laennec ausdrückte, «über den Sinn des Hörens das Auge in gewisser Weise so weit verlängert, dass man in den lebenden Patienten hineinschauen kann.»
Denn hineingeschaut hatte er bislang nur in die Toten.
Jetzt begann Laennec damit, an seiner Arbeitsstätte im Hôpital Necker zwischen Krankenbett und Seziertisch hin und herzuwechseln, hörte die Lebenden ab und öffnete die Verstorbenen, um all die todbringenden Veränderungen im Brustkorb aufzuspüren und zusammenzutragen.
Und als die ersten Herzen mit Stereo-Stethoskopen abgehört werden können, schlägt das seine schon nicht mehr. 1826 stirbt René Laennec an Tuberkulose, an der Schwindsucht genannten Lungenkrankheit, die ihre Opfer über kurze Zeit zum Verschwinden bringt. Ihre Körper ausmergelt und den kläglichen Rest mit Fieber durchschüttelt, ihn Blut spucken, schwitzen und seine Hände wie Feuer brennen lässt.
Dank Laennecs Erfindung liess sich die Krankheit zwar besser diagnostizieren, blieb aber bis zur Entdeckung des Antibiotikums Streptomycin 1943 ein unabwendbares Todesurteil.
Was ihn aber überdauerte, was wie Napoleons Code civil in seinen Grundzügen bis heute Bestand hat, ist seine Arbeit, seine Untersuchungen des Brustkorbs mit Hilfe des Stethoskops: Laennec gelang es, krankhafte Geräusche mit krankhafter Anatomie zu verknüpfen, und er begründete damit eine thoraxmedizinische Methode, die Radiologie und Chirurgie inzwischen erweitert, aber nicht ersetzt haben.