US-Aussenminister John Kerry hat am Mittwoch bei einem Treffen mit Frankreichs Präsident François Hollande den Erfolg im Kampf gegen den IS beschworen. «Daesh wird grösseren Druck spüren. Sie spüren ihn bereits jetzt.» Tatsächlich mehren sich die Anzeichen, dass das Terror-Kalifat in Syrien und im Irak empfindliche Rückschläge erleidet. Die Luftschläge, die Frankreich als Vergeltung auf die Anschläge am Freitag führte, sind nur ein Grund dafür.
Nach dem Scheitern der US-Pläne, ein Kontingent an arabischen Kämpfern aufzustellen, zu trainieren und als Speerspitze im Kampf gegen den IS einzusetzen, richtete die USA ihre Aufmerksamkeit auf ein Zusammengehen von kurdischen und arabischen Kräften. Unter dem Namen «Demokratische Kräfte Syriens» formierte sich im Oktober eine Koalition von YPG-Kämpfern, arabischen und christlichen Milizen. Die Koalition trägt Früchte: Vor einer Woche wurde die strategisch wichtige Stadt Sindschar von kurdischen und jesidischen Kräften zurückerobert.
Die inoffizielle IS-Kapitale Rakka war in den vergangenen Tagen Ziel heftiger Bombardements von französischen und russischen Streitkräften. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden während den dreitägigen Angriffen 33 IS-Kämpfer getötet. Für den IS, der nach jüngsten Schätzungen noch immer auf ca. 30'000 Kämpfer zählen kann, ein verschmerzbarer Verlust. Als Reaktion auf die Luftschläge haben sich mehrere hohe Kommandanten nach Mosul abgesetzt. Kurdische und arabische Kräfte stehen zudem nur noch 48 Kilometer von Rakka entfernt und haben wichtige Versorgungsrouten gekappt.
Wichtiger dürfte die Symbolkraft der Flucht höherer IS-Chargen sein:Für viele Sunniten in syrischen oder irakischen Territorien war der Islamische Staat lange das kleinere Übel.Vor die Wahl gestellt, entweder unter der Knute schiitischer Herrschaft zu leben oder dem IS beizutreten, entschieden sich viele für Letzeres . Jetzt scheint der Wind zumindest teilweise zu drehen. Die zunehmende Brutalität innerhalb der Organisation führt dazu, dass Kämpfer mit den Füssen abstimmen – und dem Terror-Kalifat den Rücken kehren.
Für ein Ausdünnen der Reihen spricht auch eine Massnahme, die der IS offenbar vor kurzem angekündigt hat: Demnach wurden alle männlichen Jugendlichen im kampffähigem Alter aufgefordert, sich bei lokalen Polizeistellen zu registrieren.
Ankara, Sinai, Beirut, Paris: Über die Motive der jüngsten Anschlags-Serie sind sich die Experten im Westen uneins. Für die einen stellen sie eine Machtdemonstration des Terror-Kalifats dar, andere lesen darin einen Versuch, das Narrativ für die eigenen Anhänger am Leben zu erhalten und dritte vermuten eine Strategie, die auf die Mobilisierung des Rekrutierungs-Potenzials in den betroffenen Gebieten ausgerichtet ist.
Tatsache ist, dass die brutalen Anschläge zumindest vordergründig zu einem Umdenken im Westen geführt haben. Frankreichs Präsident Hollande hat dem IS den Krieg erklärt und den Worten erste Taten folgen lassen, Russlands Präsident Putin hat den Anschlag auf das russische Passagierflugzeug im Sinai aufs Schärfste verurteilt und Vergeltung angekündigt («Wir werden sie überall auf diesem Planeten finden und sie bestrafen. Russische Militäroperationen werden beweisen, dass Rache unausweichlich ist.»). Schon zuvor flogen russische Kampfjets Luftangriffe in Syrien – wenn auch der Fokus lange nicht auf dem IS lag.
Sogar im Reich der Mitte, das im Syrien-Konflikt äusserst zurückhaltend agierte, scheint ein Umdenken stattgefunden zu haben«China verurteilt die brutale Ermordung eines chinesischen Staatsbürgers aufs Schärfste» , sagte Staatschef Xi Jinping, nachdem das IS-Propaganda-Magazin «Dabiq» die Tötung einer chinesischen Geisel vermeldet hatte. Man werde jegliche terroristischen Aktivitäten aufs Resoluteste bekämpfen.
Ob die gemeinsame Front gegen den IS nur auf dem Papier Bestand hat oder tatsächlich zu einer effektiven Waffe gegen das Kalifat wird, wird sich zeigen. Die Syrien-Resolution, die Russland am Mittwoch in aller Eile im Sicherheitsrat eingebracht hat, dürfte für den Westen jedenfalls schwer verdaulich sein: Eine Zusammenarbeit mit dem syrischen Despoten Baschir al-Assad, wie sie Moskau in dem Papier nun fordert, schlossen die Westmächte bisher kategorisch aus. Frankreichs UN-Resolution hingegen dürfte auf breite Zustimmung stossen.
Die Führungsriege des IS blieb bisher verschont, aber im Mittelbau lichten sich langsam die Reihen. In den vergangenen Wochen verkündete das US-Verteidigungsministerium die Tötung des britischen Dschihadisten Mohammed Emwazi, der als brutaler Henker «Dschihadi John» traurige Berühmtheit erlangt hatte. Der Befehlshaber des IS-Ablegers in Libyen soll ebenfalls getötet worden sein. Über den Zustand des deutschen Dschihadisten Denis Cuspert alias «Deso Dogg» kursieren widersprüchliche Informationen: Nachdem das Pentagon Ende Oktober seinen Tod vermeldete, s chrieb der «Spiegel» am Donnerstag unter Berufung auf das deutsche Verteidigungsministerium, dass Cuspert womöglich noch am Leben sei.
Seit längerem machen Meldungen die Runde, dass der Haussegen beim IS schief hängt. Der Zustrom an ausländischen Freiwilligen (gut zwei Drittel der 30'000 Männer, die beim IS unter Waffen stehen, stammen aus dem Ausland) habe zu Spannungen innerhalb der Terrormiliz geführt. Dem Kern-IS soll vor allem das Glücksritter-Gebaren der Dschihad-Touristen sauer aufstossen.
Die Niederlagen, die der IS an verschiedenen Fronten verzeichnete, liefern eine weitere Deutung für die jüngste Anschlagsserie: Die Propagandamaschine des IS musste dringend geölt werden – mit Attacken, die sich im Endeffekt als kontraproduktiv erweisen könnten.
Militärische Zwischenerfolge im Kampf gegen den IS sind jedoch kein Versprechen dafür, die Terrormiliz endgültig auszumerzen. Und selbst wenn der IS seines Staatsgebiets über kurz oder lang beraubt werden sollte: Die Gefahr von Anschlägen ist damit noch lange nicht gebannt. Erstens benötigen Operationen wie beispielsweise bei Charlie Hebdo ein Minimum an finanziellen und logistischen Mitteln. Und zweitens könnten andere terroristische Gruppierungen das Vakuum, das der IS bei einer Niederlage hinterlassen würde, ausfüllen. Zudem verkennt, wer das Heil in militärischen Offensiven in Syrien und im Irak sucht, dass der islamistische Terror zu einem Gutteil vom Westen hausgemacht ist.