
Martin Schulz, Jean-Claude Juncker und Donald Tusk: erstes Krisentreffen der EU-Führung am Freitag in Brüssel. Bild: EPA/REUTERS POOL
Die Briten wollen
die Europäische Union verlassen. Auf dem Kontinent ist die
Bestürzung gross. Dabei kommt das Ergebnis der Abstimmung nicht überraschend: Die
EU hat sich von den Menschen entfremdet.
24.06.2016, 17:1624.06.2016, 18:03
Nach aussen bemüht
man sich in Brüssel, den Ball flach zu halten. EU-Ratspräsident
Donald Tusk sagte am Freitag, der Austritt Grossbritanniens werde
«ernste politische Konsequenzen» mit sich bringen. Nun gelte es
aber, nicht in Hysterie zu verfallen: «Wir haben uns auf dieses
Szenario vorbereitet.» In Wirklichkeit herrschen Konsternation und
Ratlosigkeit. In den nächsten Tagen wird in Brüssel und in den
EU-Hauptstädten ein Krisentreffen auf das andere folgen.
Zwei Fragen werden im Zentrum stehen: Wie konnte das passieren? Und wie geht es weiter? Die Versuchung ist gross, das Votum der Briten mit ihrem eigenbrötlerischen Charakter zu erklären. Stets waren sie auf Distanz zum «Kontinent» bedacht, auch als EU-Mitglied haben sie auf Sonderregeln bestanden. Einzelne Stimmen behaupten, ohne die Querulanten von der Insel werde es der EU besser gehen. Dieser Ansatz aber zielt am Grundproblem vorbei.

Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge wurde 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet.
Bild: EPA ANSA
Die Europäische
Union ist eine Erfolgsgeschichte. Und genau das ist ein wesentlicher
Grund, warum sie nach dem Ja zum Brexit in die grösste Krise ihrer
Geschichte gerasselt ist. Seit den Römischen Verträgen von 1957,
dem Gründungsakt der heutigen EU, wurde das europäische
Einigungsprojekt laufend weiterentwickelt. Es profitierte dabei von
einer in der Geschichte des Kontinents beispiellosen Epoche des
Friedens und Wohlstands.
Vertiefung ohne das Volk
Die ursprüngliche
Wirtschaftsgemeinschaft wurde 1993 mit dem Vertrag von Maastricht in
den Binnenmarkt und in die Europäische Union überführt. Danach
erfolgten weitere Vertiefungen, nicht zuletzt motiviert durch das
Ende des Kalten Krieges und den Drang der ehemaligen Ostblockstaaten
in die EU. Die Einführung einer gemeinsamen Währung wurde
beschlossen. Mit dem Schengener Abkommen wurden die Grenzkontrollen
innerhalb der EU aufgehoben.
Ein wichtiger Aspekt
kam dabei zu kurz: Die EU versäumte es, ihre Bürgerinnen und Bürger
in den Prozess einzubeziehen. Die Briten waren von Anfang an weder
beim Euro noch bei Schengen dabei. Die Dänen stimmten dem
Maastricht-Vertrag erst im zweiten Anlauf zu, nachdem sie weit
reichende Ausnahmeregeln erhalten hatten. Auch in anderen Ländern
kam es wiederholt zu negativen Volksentscheiden. So lehnten Dänemark
und Schweden den Euro ab.
Die EU als Eliteprojekt
Es fehlte somit
nicht an Warnsignalen, dass im europäischen Einigungsprozess einiges
schief läuft. Besonders deutlich wurde dies 2005, als Frankreich und
die Niederlande eine gemeinsame europäische Verfassung ablehnten und
das aufwändig erarbeitete Vertragswerk damit versenkten. Spätestens
zu diesem Zeitpunkt hätten die führenden Politiker Europas
realisieren müssen, dass ihre Völker Mühe haben mit dem Konzept
einer «immer engeren Union».

Jubel in Frankreich nach dem Nein zur EU-Verfassung 2005.
Bild: EPA
Die Idee eines
vereinigten Europas war stets ein Projekt der Eliten, während die «normalen» Menschen weiterhin in nationalen Kategorien denken. «Brüssel» blieb für sie ein abstrakter Begriff und gleichzeitig
ein beliebter Sündenbock für Fehlentwicklungen, auch wenn die
heimischen Regierungen dafür verantwortlich waren. Die EU bemühte
sich zwar um mehr Demokratie, sie gab ihrem Parlament mehr Macht,
aber das konnte die Entfremdung nicht aufhalten.
Krisen verstärkten Ressentiments
Nach der schweren
Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 setzte sie sich beschleunigt
fort. Eine galoppierende Staatsverschuldung, die in vielen Ländern
grassierende Jugendarbeitslosigkeit und ein schwaches
Wirtschaftswachstum geben vielen Menschen das Gefühl, dass sie vom
Wohlstand zunehmend abgekoppelt werden. Die knallharte
Austeritätspolitik, die den verschuldeten Euroländern aufgezwungen
wurde, verstärkte die Ressentiments gegenüber der EU.
Hier kommt die
verhängnisvolle Rolle Deutschlands ins Spiel. In der Eurokrise
gebärdet sich das grösste EU-Mitglied als «Zuchtmeister» und
verschärft das Problem gleichzeitig mit seinen massiven
Exportüberschüssen. Dabei rächt es sich, dass Frankreich als «natürliches» Gegengewicht faktisch ausgefallen ist. Das Land
ist durch wirtschaftliche Probleme und die anhaltende Terrorbedrohung
gelähmt und wird von einem schwachen Präsidenten regiert.
Europa der zwei Geschwindigkeiten
Die Flüchtlingskrise
hat die negativen Gefühle gegenüber Deutschland und der
«Willkommenskultur» von Kanzlerin Angela Merkel verstärkt. Die
Ablehnung der Flüchtlinge vermischt sich dabei mit einem Unbehagen
gegenüber dem freien Personenverkehr innerhalb der EU. Die Briten
haben als erstes Mitgliedsland ihre Türen für Migranten aus
Osteuropa vollständig geöffnet. Nun hat kein Thema die
Brexit-Befürworter so umgetrieben wie die Zuwanderung.
Jetzt muss sich die
EU fragen, wie es weitergeht. Marine Le Pen und Geert Wilders
fordern bereits Exit-Abstimmungen in ihren Ländern. Die EU kann eine
verhängnisvolle Kettenreaktion nur aufhalten, wenn sie sich
erneuert. Die Krisen der letzten Jahre haben aufgezeigt, dass der
Euro und die Abkommen von Schengen und Dublin Schönwetterkonstrukte
sind, wie der frühere deutsche Aussenminister Joschka Fischer
letztes Jahr im watson-Interview zugeben musste.
Eine gemeinsame
Währung funktioniert nicht ohne gemeinsame Finanz- und
Wirtschaftspolitik. Auch bei der Aussen- und Sicherheitspolitik ist
eine Vertiefung angesagt. Nicht alle Mitglieder werden dabei
mitmachen wollen. Der Ausweg ist ein Europa der zwei
Geschwindigkeiten, «sodass diejenigen Mitgliedstaaten, die wollen,
noch enger zusammenrücken können, und diejenigen, die sich
lediglich auf einen gemeinsamen Binnenmarkt beschränken wollen, dies
ebenfalls tun können», wie der frühere belgische
Ministerpräsident Guy Verhofstadt auf Focus Online schrieb.
Brexit-Referendum
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Brexit-Referendum
quelle: x01988 / phil noble
Die Umsetzung wird nicht einfach sein. Gelingt sie, kann das vereinigte Europa seine tiefe Krise überwinden und wieder zur Erfolgsgeschichte werden. Die
Voraussetzungen sind besser, als man derzeit vermuten mag.
Umfragen zeigen, dass die EU bei der jüngeren Generation die grösste
Akzeptanz geniesst.
Auch in Grossbritannien haben die Jungen klar
gegen den Austritt gestimmt. Sie haben ein Europa schätzen gelernt,
in dem man problemlos herumreisen, fast überall mit dem gleichen
Geld bezahlen und ohne viel Aufwand eine Arbeit annehmen oder eine
Ausbildung absolvieren kann.
Eine Rückkehr zu
einem Europa der Nationalstaaten kann keine Option sein. Der
Kontinent würde im Konzert der Weltmächte irrelevant. Gerade die
von EU-Gegnern als leuchtendes Vorbild gepriesene Schweiz hat in den letzten Jahren auf die
harte Tour erlebt, wie machtlos ein vermeintlich souveräner
Nationalstaat ist, wenn er von den Grossmächten in den Schwitzkasten
genommen wird.
So reagiert die britische Presse auf den Brexit
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So reagiert die britische Presse auf den Brexit
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Der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed hat sich Medienberichten zufolge erstmals persönlich mit Mitgliedern der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) getroffen, um ein Friedensabkommen voranzutreiben. Bei dem Treffen sei es um die Umsetzung von bisherigen Absprachen zwischen den Seiten und Aspekte gegangen, «die künftig mehr Aufmerksamkeit erforderten», berichtete der staatliche Fernsehsender EBC am Freitag. Weitere Details wurden nicht genannt.