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Interview

«Das öffentliche Leben in Brüssel ist stark eingeschränkt»: Eindrücke aus einer besetzten Stadt

Statt Restaurantgäste Soldaten: Brüssel am Mittwoch.
Statt Restaurantgäste Soldaten: Brüssel am Mittwoch.
Bild: LAURENT DUBRULE/EPA/KEYSTONE
Interview

«Das öffentliche Leben in Brüssel ist stark eingeschränkt»: Eindrücke aus einer besetzten Stadt

25.11.2015, 09:5825.11.2015, 10:51

Vier Tage ist es her, seit der belgische Premierminister Charles Michel aufgrund einer Lagebeurteilung der Sicherheitsbehörden faktisch einen Ausnahmezustand über Brüssel verhängt hat. Michel sprach von einer «ernsten und unmittelbaren Bedrohung», man habe Hinweise darauf, dass Attentäter in Brüssel ein ähnliches Massaker wie in Paris vor etwas mehr als einer Woche geplant hätten. Schulen, Universitäten und die U-Bahn wurde daraufhin geschlossen, den Einwohnern wurde empfohlen, belebte Orte wie Flughäfen oder Bahnhöfe zu meiden, das kulturelle Leben der EU-Hauptstadt kam zum Erliegen. 

Angriff auf Paris

Am Mittwoch sollen Schulen und die Metro wieder öffnen, die maximale Terrorwarnstufe soll noch bis Montag andauern. Salah Abdeslam, einer der mutmasslichen Drahtzieher der Attentate von Paris, ist derweil noch immer auf der Flucht.

Sebastian Ramspeck ist Korrespondent des Schweizer Fernsehens in Brüssel und wohnt im EU-Quartier. Er sagt, die Stadt sei seit Sonntag merklich ruhiger, auf der Strasse sei wenig Verkehr und die öffentlichen Verkehrsmittel würden nur spärlich genutzt.

Sebastian Ramspeck, SRF-Korrespondent in Brüssel.
Sebastian Ramspeck, SRF-Korrespondent in Brüssel.
bild:srf

Was für ein Bild bietet Brüssel, vier Tage nachdem das nationale Gefahrenzentrum die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen hat? 
Ramspeck: Das öffentliche Leben ist immer noch stark eingeschränkt, die Menschen halten sich weitgehend an die Empfehlung der Regierung, grössere Menschenansammlungen zu meiden. Viele arbeiten von zu Hause aus.

Was merkt man von den verschärften Sicherheitsvorkehrungen?
In meinem Wohnquartier nicht viel. Vor dem Gebäude der EU-Kommission hingegen sind eindeutig mehr Soldaten postiert. Allerdings fand schon nach dem Anschlag gegen «Charlie Hebdo» im Januar eine Verschärfung der Sicherheitsmassnahmen statt. Gestern habe ich im Stadtzentrum einen Schützenpanzer gesehen, das ist doch sehr ungewohnt in Brüssel.

Schwerbewaffnete Soldaten patrouillieren in der Galerie de la Reine: In Brüssel herrscht die höchste Terrorwarnstufe. 
Schwerbewaffnete Soldaten patrouillieren in der Galerie de la Reine: In Brüssel herrscht die höchste Terrorwarnstufe.
Bild: OLIVIER HOSLET/EPA/KEYSTONE

Wie ist die Stimmung unter den Einwohnern?
Da fin​den Sie das ganze Spektrum: Ich habe mit Leuten geredet, bei denen nach den jüngsten Ereignissen vor lauter Angst Krankheitssymptome aufgetreten sind, andere nehmen das Ganze gelassen. Ich denke, das würde anderswo ähnlich aussehen.

Belgiens Regierung sagte, es würden ähnliche Terroranschläge wie in Paris befürchtet ...
Ja, offenbar wurden Anschläge an mehreren Orten mit Schnellfeuerwaffen und Sprengstoff geplant, was ziemlich genau dem Muster in Paris entspräche. Das zumindest ist die Regierungsverlautbarung.

Und weiss man in Insiderkreisen mehr?
Grundsätzlich dringen kaum zusätzliche Informationen nach aussen. Gut möglich, dass einige Journalisten über mehr Infos verfügen, aber sie halten sich an die von der Regierung erbetene Zurückhaltung. 

«Einzelne Journalisten wurden von Kollegen zurechtgewiesen, als sie auf Twitter Bilder einer Razzia posteten.»

Also ein Maulkorb für Journalisten?
Nein, die Medienschaffenden orientieren sich bloss am journalistischen Ethos.​ Nicht mehr und nicht weniger. Es ist klar, dass die Ermittlungsbemühungen der Behörden Schaden nähmen, wenn sensible Informationen verbreitetet würden. Einzelne Journalisten wurden denn auch von Kollegen zurechtgewiesen, als sie auf Twitter Bilder einer Razzia posteten.

Deshalb auch die Episode mit den Katzenbildern am Sonntagabend?
Genau.​

Wie wird die Informationspolitik der Regierung bewertet?
Grundsätzlich ist man zufrieden. Man attestiert der Regierung, den schwierigen Spagat zwischen zu viel und zu wenig Informationen gut hinzukriegen. In einem anderen Bereich ist hingegen durchaus Kritik zu vernehmen ...

Brüssel: Eine Stadt im Ausnahmezustand

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Terrorgefahr legt Brüssel lahm
Brüssel, Sonntagabend: Die Lage ist äusserst angespannt.
quelle: epa/epa / olivier hoslet
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Wo denn?
Bei den Ermittlungsbehörden. Eineinhalb Wochen sind seit den Attentaten in Paris vergangen, viele Spuren haben nach Brüssel geführt, aber einen durchschlagenden Ermittlungserfolg können die belgischen Ermittler noch immer nicht präsentieren.

Immerhin hat die belgische Polizei Anklage gegen einen Verdächtigen erhoben. Drei bei Razzien festgenommene Verdächtige befinden sich noch immer in Polizeigewahrsam.
Zwei belgische Zeitungen berichten heute Morgen, die Polizei habe mit den Einsätzen am Sonntag Attentate verhindern können und die mutmassliche Terrorzelle sei destabilisiert worden. Wenn das stimmt, wäre das natürlich ein grosser Erfolg. Offiziell bestätigt wurden diese Infos nicht. Fakt ist: Einer der mutmasslichen Attentäter von Paris, Salah Abdeslam, konnte noch immer nicht gefasst werden, und vor allem: die höchste Warnstufe bleibt bestehen. Das beschäftigt die Leute.​

Besteht die Möglichkeit, dass der Ausnahmezustand in Brüssel länger als bis Montag anhält?
Ja, wenn das nationale Gefahrenzentrum die Terrorgefahr für längere Zeit mit Stufe 4 einschätzt und die Regierung zum Schluss kommt, dass die gegenwärtigen Massnahmen aufrechterhalten werden müssen, dann könnte das öffentliche Leben auch über Montag hinaus eingeschränkt bleiben.

Gepäckkontrolle an der Station Midi: Bis Montag gilt die maximale Terrorwarnstufe in der belgischen Hauptstadt.
Gepäckkontrolle an der Station Midi: Bis Montag gilt die maximale Terrorwarnstufe in der belgischen Hauptstadt.
Bild: LAURENT DUBRULE/EPA/KEYSTONE

Das Brüsseler Vorortsquartier Molenbeek rückte nach den Attentaten in Paris in den Fokus der Weltöffentlichkeit, Medien verpassten dem knapp 100'000 Einwohnern zählenden Stadtteil den Übernamen «Islamisten-Hochburg». Wie ist die Stimmung in Molenbeek?
​Ich war vergangene Woche für eine Reportage dort. Damals bot sich mir ein bizarres Bild. Molenbeek wurde regelrecht von Journalisten belagert. Auf der Strasse waren mehr Kameraleute und Reporter als Einwohner zu sehen. Diejenigen, die Auskunft gaben, bedauerten, dass ihr Stadtteil in die internationalen Schlagzeilen gerückt ist – nicht zum ersten Mal.

«Es hat den Staat nicht gekümmert, dass aus Einwanderern Gesellschaftsverlierer wurden, und es kümmert den Staat nicht, dass dieselben Leute ihr Auskommen nun in der Kleinkriminalität suchen oder zu gewaltbereiten Islamisten werden.»

Und was sagen die Bewohner zu den Vorwürfen, dass Molenbeek eine Brutstätte für den islamistischen Terror ist?
Auch hier gibt es wieder die gesamte Meinungspalette. Ein Imbissverkäufer sagte mir, er habe nie verstanden, weshalb die Polizei im Quartier immer tatenlos war. Er sprach von einer ‹Kultur des Wegschauens›. Auf der anderen Seite gibt es auch diejenigen, die die Schuld am Terror den Amerikanern und Israelis anlasten.

Was ist mit der ‹Kultur des Wegschauens› gemeint?
​Das Versagen des Staates bei Prävention und Repression. Einerseits, so die Kritik, biete Belgien jungen Leuten aus benachteiligten Schichten kaum Perspektiven. Anderseits nehme der Staat seine Aufgaben bei der Bekämpfung der Kleinkriminalität und des gewaltbereiten Islamismus nicht wahr. Salopp gesagt: Es hat den Staat nicht gekümmert, dass aus Einwanderern Gesellschaftsverlierer wurden, und es kümmert den Staat nicht, dass dieselben Leute ihr Auskommen nun in der Kleinkriminalität suchen oder zu gewaltbereiten Islamisten werden.

«Ich habe gestern eine Ladenbesitzerin an der Grande-Place gefragt, ob sie Angst habe. Sie sagte mir: ‹Ja, aber nicht vor einem Anschlag. Sondern vor der Monatsabrechnung.›»

Und wie präsentierte sich Molenbeek während des «Lockdown»?
Ein Journalist, der gestern dort war, erzählte mir, dass ​in Molenbeek der Ausnahmezustand weniger wahrgenommen werde als in anderen Stadtteilen. Die Läden sind geöffnet, das Leben geht mehr oder weniger seinen gewohnten Gang.

Übertragungswagen in Molenbeek: Das Brüsseler Viertel wurde nach den Terroranschlägen in Paris regelrecht von Medienleuten überrannt.
Übertragungswagen in Molenbeek: Das Brüsseler Viertel wurde nach den Terroranschlägen in Paris regelrecht von Medienleuten überrannt.
Bild: YVES HERMAN/REUTERS

Wieso das?
Vielleicht weil die Bewohner der Überzeugung sind, das Molenbeek nicht Ziel Nr. 1 eines möglichen Anschlags ist. 

In Brüssel herrscht der «Lockdown», für den Rest Belgiens «nur» Terrorwarnstufe 3. Wie präsentiert sich die Lage auf dem Land?
Ich hielt mich die letzten Tage ausschliesslich in Brüssel auf, aber wie man hört, beschäftigt die aktuelle Situation auch die Leute auf dem Land und in den Vororten. Die Angst, dass Terroristen ihre Ziele weg von den nun stark überwachten Städten auf die Dörfer verschieben könnten, ist vorhanden.

Was überwiegt in diesen hektischen Tagen bei den Belgiern: Die Furcht vor einem Anschlag oder der Ärger über eine Überreaktion der Behörden?
Eindeutig ersteres. ​Wenn die Behörden derartige Massnahmen anordnen, dann werden diese auch begründet sein, das ist die Meinung der meisten. Aber klar, es gibt einzelne Stimmen, die sagen, es handele sich um Hysterie und Angstmache. Ich habe gestern eine Ladenbesitzerin an der Grande-Place gefragt, ob sie Angst habe. Sie sagte mir: ‹Ja, aber nicht vor einem Anschlag. Sondern vor der Monatsabrechnung.›

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