Als die europäische Grenzschutzagentur Frontex am vergangenen Dienstag die neuesten Zahlen zu den Flüchtlingsströmen in Europa publizierte, lauteten die Schlagzeilen unisono: 710'000 Flüchtlinge erreichten bisher die EU.
Der grosse Aufschrei über die erneute Zunahme der Flüchtlingszahlen blieb aus. Seit der Prognose des deutschen Vizekanzlers Sigmar Gabriel im September, dass alleine in Deutschland in diesem Jahr bis zu einer Million Menschen Asyl beantragen werden, scheint es, sind die Menschen in Europa abgestumpft.
Aus zwei Gründen lohnt es sich aber, die Zahlen von Frontex etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, wie das Medienportal «The Conversation» schreibt: Erstens bedeuten sie eine massive Zunahme im Vergleich zum Vorjahr, als Frontex 282'000 Menschen zählte, die illegal die EU-Grenzen überquerten. Zweitens weichen die Zahlen teilweise massiv von den von der UNO und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) herausgegebenen Daten ab.
Diese Diskrepanz kommt zustande, weil Frontex Flüchtlinge in vielen Fällen nicht nur einmal, sondern zwei- oder gleich dreimal registriert – kurz: jedes Mal wenn sie eine der EU-Aussengrenzen überqueren.
Ein Beispiel: Der Syrer, der von der Türkei aus griechischen Boden betritt (Griechenland = EU-Aussengrenze), dann über Albanien, Mazedonien oder Serbien (alles Nicht-EU-Länder) nach Ungarn (EU) oder Kroatien (EU) reist, von dort wieder in ein Transitland geschickt wird (bspw. Serbien) und dann erneut in den EU-Raum einreist (Kroatien), taucht in der Frontex-Statistik drei Mal auf.
Frontex bestätigte diese Doppel- und Dreifachzählungen gegenüber einem Journalisten auf Twitter:
@FrontexEU how can you be sure you are not double-counting as not everyone is identified & people cross multiple #EUborders? #refugeecrisis
— Nando Sigona (@nandosigona) 13. Oktober 2015
@nandosigona Monthly figure includes all detections @ EU external borders. People arriving in Greece would again be counted entering Hungary
— Frontex (@FrontexEU) 13. Oktober 2015
Im Anschluss an die Twitter-Konversation fügte Frontex unter den Beitrag zwar ein Korrigendum ein. Titel, Text und Stossrichtung blieben aber unverändert.
Die Mehrfachzählung von Flüchtlingen wirft Fragen auf. Denn: In der angeheizten Asyldebatte sind die Zahlen von Frontex nicht nur Wasser auf den Mühlen von Rechtspopulisten und Abschottungs-Fanatiker. Auch die Grenzschutzagentur selber steht im Fokus: Je grösser die Zahl an Migranten, desto höher wird das Budget von Frontex veranschlagt. So hatte Frontex-Chef Fabrice Leggeri nach der Publikation der jüngsten Zahlen 700 zusätzliche Beamte bei der EU angefordert. (wst)