Liesse sich mit der Aufmerksamkeitsökonomie Geld verdienen, der Uno-Migrationspakt wäre die am heissesten gehandelte Aktie. Das war bis vor kurzem anders. Bereits im September 2016 fällten die Uno-Mitgliedsstaaten den einstimmigen Entscheid, erstmals die Grundsätze für den Umgang mit Migranten festzulegen. Der Schweizer Uno-Botschafter Jürg Lauber war als «Co-Facilitator» in führender Position an den Verhandlungen beteiligt. Bis zum Abschluss der Verhandlungen sorgte der «Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration» (vollständiger Text) bloss einmal wirklich für Schlagzeilen: als die Regierung von US-Präsident Donald Trump im Dezember 2017 den Ausstieg aus den Verhandlungen bekanntgab.
Das änderte sich nach der Veröffentlichung des Vertragsentwurfs im Juli: Die Aufmerksamkeit für das Thema stieg exponentiell. Zunächst in den sozialen Medien, wo von der extremen Rechten im Zusammenhang mit dem Pakt gezielt unzählige Verschwörungstheorien gestreut wurden. Stichwort: «Von George Soros geplante Umvolkung». Langsam fand das Thema den Weg in die etablierten Medien. Durch besonderen Fleiss zeichnete sich in der Anfangsphase eine Redaktorin der «Basler Zeitung» aus. Sie hat unterdessen die Stelle gewechselt und ist nun Mediensprecherin der SVP Schweiz.
Diese Partei war es denn auch, welche den Pakt am 13. September aufs politische Parkett brachte. Die SVP forderte an einer Medienkonferenz einen sofortigen Übungsabbruch. Der Pakt umfasse absolut weltfremde Forderungen. Er widerspreche der Bundesverfassung und führe eine globale Freizügigkeit ein. SVP-Hardliner Andreas Glarner erstattete in der Folge laut Medienberichten gar Strafanzeige gegen Uno-Botschafter Lauber: Dieser habe gegen Artikel 267 des Strafgesetzbuchs verstossen und als «Bevollmächtigter der Eidgenossenschaft vorsätzlich Unterhandlungen mit einer auswärtigen Regierung zum Nachteil der Eidgenossenschaft» geführt.
Am nächsten Tag behandelte der Bundesrat das Geschäft. Es wäre die erste von vielen Gelegenheiten gewesen, mit der gebotenen Kraft und Nüchternheit auf die teilweise absurde Kritik zu reagieren – und den Pakt als das darzustellen, was er ist. Ein Kompromiss zwischen – damals noch – 191 beteiligten Staaten, nicht vollständig gelungen, mit einzelnen fragwürdigen Formulierungen, aber im Grossen und Ganzen für die Schweiz vorteilhaft. Ein erster Schritt in Richtung einer global koordinierten Herangehensweise an ein globales Problem.
Was tat der Aussenminister, in dessen Zuständigkeitsbereich der Pakt fällt? Ignazio Cassis stellte im Bundesrat mit einem Antrag die Unterzeichnung infrage. Vier Tage später äusserte er sich in einem NZZ-Interview ausführlich über die offenen Fragen und Bedenken, ohne wirklich von den Vorteilen zu sprechen. Die Vorteile eines Vertragswerks, an dem seine Diplomaten seit zwei Jahren mitverhandelt hatten, dessen Entwurf ihm seit zwei Monaten vorlag. Cassis erklärte, eine Nicht-Unterzeichnung hätte innenpolitisch «null Schaden» zur Folge. Es war ein deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl an die SVP, der er seine Wahl zu verdanken hat. Die Botschaft: Der Aussenminister wird sich kaum für das erklärte Ziel des Gesamtbundesrats engagieren, den Pakt Mitte Dezember in Marrakesch zu unterzeichnen.
In der Folge legte die Debatte nochmal an Intensität zu. Die SVP reichte in der Herbstsession sage und schreibe 20 Fragen zum Migrationspakt ein. Österreichische Rechtsextreme der Identitären Bewegung begannen, in der Schweiz mit Flyern Stimmung gegen den Migrationspakt und Uno-Botschafter Jürg Lauber zu machen.
Am 10. Oktober beschloss der Bundesrat, den Migrationspakt zu unterzeichnen. Eine Medienkonferenz, um den Kampf um die Vorherrschaft von rationalen Argumenten gegenüber irrationale Kampagnen öffentlich anzunehmen? Fehlanzeige. Cassis schwieg lieber, obwohl unterdessen längst klar war, dass eine stillschweigende Verabschiedung dem Parlament und der Öffentlichkeit sauer aufstossen würde.
Die SVP versuchte derweil, die mögliche Zustimmung zum Migrationspakt – obwohl dieser rechtlich nicht verbindlich und somit nicht davon betroffen wäre – als Argument für ihre Selbstbestimmungs-Initiative zu verkaufen. Wohl auch aus Angst vor einem SVP-Sieg an der Urne begannen Politiker der bürgerlichen Mitte, den Pakt grundsätzlich in Frage zu stellen.
Da die Mitwirkung der Schweiz an den Verhandlungen unterdessen seit zwei Jahren bekannt und der Vertragsentwurf seit rund drei Monaten öffentlich waren, war die «Besorgt und überrumpelt»-Volte von Freisinnigen und einzelnen CVPlern zwar wenig glaubhaft. Doch angesichts eines weiterhin schweigenden Aussenministers war das Manöver zumindest nachvollziehbar.
Eine nach der anderen forderten die vorbereitenden Parlamentskommissionen den Bundesrat dazu auf, den Migrationspakt vorerst nicht zu unterzeichnen und eine Debatte im Parlament zu ermöglichen. Am 21. November gab der Bundesrat nach. Auf Cassis’ Antrag hin beschloss er, die Unterzeichnung bis nach der Wintersession zu sistieren. Die offizielle Haltung jedoch blieb: Der Bundesrat unterstützt den Pakt und seine Unterzeichnung liegt in der Kompetenz der Regierung. Die Motionen der Parlamentskommissionen, ihm diese Kompetenz zu entziehen, empfiehlt er zur Ablehnung.
Gegen Ende der stürmisch geführten Ständeratsdebatte am Donnerstagvormittag war klar, dass diese Motionen eine Mehrheit finden würden. Als Aussenminister Cassis kurz vor der Abstimmung das Wort erteilt bekam, vergass er denn auch beinahe mitzuteilen, dass der Bundesrat ein Nein empfehle. Wie in der ganzen Debatte um den Migrationspakt legte Cassis einen kraftlosen Auftritt hin. Er reagierte, anstatt zu agieren.
Schiesst der Nationalrat den Migrationspakt nicht schon nächste Woche ab, sondern folgt der Linie des Ständerats, muss der Aussenminister in einer nächsten Session im Parlament für eine Zustimmung werben. Dazu muss er aber erst einmal das Gefühl ausstrahlen, dass er selber überhaupt vom Vertrag überzeugt ist. Sollte der Pakt diese parlamentarische Hürde nehmen – und sie ist hoch genug – steht eventuell sogar eine Volksabstimmung an, wie es die SVP und Teile der FDP fordern. Gemäss einer Umfrage hätten derzeit die Gegner des Migrationspakts die Nase vorn.
Die 66,2 Prozent Nein-Stimmen zur Selbstbestimmungs-Initiative zeigen: In der Schweiz sind Mehrheiten zu holen für internationale Kooperation und Multilateralismus. Um das zu schaffen, müsste Ignazio Cassis aber mehr als ein Jahr nach Amtsantritt endlich in die Rolle eines Bundesrats hineinwachsen. Das bedeutet: Er müsste für einmal beschlossene Positionen kämpfen. Seine Politik der Öffentlichkeit erklären. Und Gegenwind aushalten können.