Wer A sagt, muss nicht zwingend B sagen. Schon gar nicht in der Politik, wo populistische Winkelzüge und opportunistische Kehrtwendungen an der Tagesordnung sind. Oft ist erfolgreicher, wer seine Haltung flexibel anpasst. Doch der Reihe nach.
Nach einer Reihe spektakulärer Raserunfälle hat das Schweizer Parlament im Rahmen der Via-Sicura-Diskussion 2012 die Gesetze verschärft. Wer in der Tempo-30-Zone mit mehr als 70 km/h geblitzt wird, innerorts mit mehr als 100 statt 50, ausserorts mit 140 statt 80 und auf der Autobahn mit 200 statt 120 wird mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr belegt.
Zusätzlich wird ihm der Führerausweis für mindestens zwei Jahre entzogen. Entscheidend dabei: Die Strafen greifen automatisch. Ob jemand tagsüber mit 70 durch eine mit Kindern belebte 30er-Zone bolzt oder nachts um drei Uhr auf einer leeren Landstrasse brettert, spielt keine Rolle mehr. Der Gesetzgeber nahm den Richtern jeglichen Handlungsspielraum weg.
Doch das könnte sich bald ändern: Am 15. Dezember stimmte der Nationalrat mit 113 zu 72 Stimmen für die Wiedereinführung des Augenmasses bei schweren Raserdelikten. Auf eine Mindestdauer bei der Freiheitsstrafe soll künftig verzichtet, der Führerausweis nur noch sechs Monate entzogen werden.
«Wir wollen nicht die gesamte Rasergesetzgebung kippen», sagte der Solothurner SVP-Nationalrat Walter Wobmann in der Ratsdebatte. «Wir wollen mehr Verhältnismässigkeit bei der Bemessung des Strafmasses.»
Der Politiker, der in seiner Freizeit gerne mit dem Motorrad unterwegs ist, machte sich zum Anwalt – man höre und staune – der von der SVP sonst so viel gescholtenen Richter: «Derzeit sind richterliches Ermessen und die Berücksichtigung der Umstände gar nicht möglich. So haben mir mehrere Richter gesagt, dass sie die momentanen Vorgaben auch falsch fänden und diese für sie fast unerklärbar seien.» Der Argumentation Wobmanns schloss sich die gesamte SVP-Fraktion sowie eine Mehrheit von FDP und CVP an.
Verhältnismässigkeit? Ermessensspielraum? Damit ist der Bogen zur aktuellen Diskussion um die Durchsetzungsinitiative gespannt. Diese verlangt, dass straffällige Ausländer automatisch ausgeschafft werden. Ohne Prüfung der Umstände. Ohne Augenmass. Die Initiative zielt bewusst auf den Handlungsspielraum der Richter. Die Kampagne der SVP suggeriert, die Richter hätten bisher viel zu lasche Urteile gefällt. Deshalb müssten nun ihre Befugnisse beschnitten werden.
Wo ist die Logik? Warum plädiert die Partei bei schweren Rasern für Vernunft, bei kriminellen Ausländern hingegen für mechanische Härte? Walter Wobmann erklärt es auf Anfrage so: «Die Strassenverkehrsgesetze betreffen alle, nicht nur die Ausländer.»
Und weiter: Die Politik sei bei Via Sicura, dem Projekt für mehr Sicherheit auf den Strassen, zu weit gegangen. Nun müssten gewisse Exzesse halt korrigiert werden. Die Verhältnismässigkeit sei zudem auch bei der Durchsetzungsinitiative gewahrt, findet Wobmann. Die Richter könnten diese beim Strafmass berücksichtigen. Vor allem aber hätten Ausländer, die sich an die Regeln halten, ja nichts zu befürchten.
Ähnlich argumentiert der Aargauer SVP-Verkehrspolitiker Ulrich Giezendanner: «Man darf gescheiter werden. Bei Via Sicura sind wir zu weit gegangen.» Er schliesse allerdings nicht aus, dass man dereinst auch die Ausländergesetzgebung wieder korrigieren müsse. «Schauen wir zuerst einmal, wie sich die Durchsetzungsinitiative auswirkt», sagt Giezendanner.
Alles klar? Übrigens: Linke und eine Minderheit von CVP und FDP argumentieren unter umgekehrten Vorzeichen ebenso inkonsequent wie die SVP. Sie stimmten im Dezember gegen die Wiedereinführung des Verhältnismässigkeitsprinzips bei Rasern, nur um in der laufenden Kampagne zu den kriminellen Ausländern das richterliche Augenmass zum Nonplusultra jedes Rechtsstaates zu erklären. Was lernen wir daraus? Politische Inkonsequenz kennt offenbar keine Parteifarbe. Was verhältnismässig ist, hängt vom Zielobjekt ab.