Weihnachten 2015, 25. Dezember, eine Familienfeier im Aargau. Thema Nummer eins am Tisch, wie überall in jenen Tagen: In Rupperswil starben am 21. Dezember vier Menschen bei einem Hausbrand. Man weiss zu diesem Zeitpunkt, wer die Opfer sind und dass eines von ihnen, Carla Schauer, kurz vor dem Tod Bargeldbezüge tätigte. Mehr nicht.
Doch an der Familienfeier weiss einer mehr. Stephan (Name geändert), 54, Berater, Familienvater. Die Runde mutmasst über die Täterschaft. Und kommt auf den Ex-Mann von Carla Schauer zu sprechen. Der sei durchgedreht und habe seine Familie getötet, spekulieren die einen. Stephan, der den Ex-Mann gut kennt, widerspricht, nimmt ihn in Schutz. Er sagt, das könne er sich nicht vorstellen. Denn auch als Ex-Mann schneide man seinen Angehörigen nicht die Kehle durch.
Es wird still in der Runde. Die Kehlen der Opfer wurden durchschnitten? Das Detail schockiert. Einige aus der Runde erzählen es später weiter.
Die Ermittler kommen wochenlang kaum weiter im Fall Rupperswil. Sie befragen systematisch alle Personen aus dem Umfeld der Mordopfer. Einige erwähnen dabei, sie hätten gehört, dass den Opfern die Kehlen durchgeschnitten worden seien. Die Staatsanwaltschaft horcht bei solchen Details, die nach wie vor Täterwissen und der Öffentlichkeit nicht bekannt sind, auf. Die Information muss aus Polizeikreisen stammen.
Verdächtigt wird der Dienstchef Forensik der Kantonspolizei Aargau. Gegen den erfahrenen Polizeioffizier wird ein Verfahren wegen Verdachts auf Amtsgeheimnisverletzung eröffnet. Stephan wird als Zeuge einvernommen. Auch seine Frau und seine Schwiegermutter werden befragt. Denn: Stephans Schwiegermutter ist die Lebenspartnerin des verdächtigten Dienstchefs. Und Stephan sagt: Ja, er habe die Information von seiner Schwiegermutter, oder eventuell von seiner Frau. Auf jeden Fall müsse sie ursprünglich vom Polizeioffizier stammen – eine andere Quelle komme für ihn nicht infrage.
Doch Frau und Schwiegermutter sagen aus, das könne nicht sein. Sie wüssten nicht, dass den Opfern die Kehlen durchgeschnitten worden seien – und schon gar nicht hätten sie so etwas herumerzählt.
Aufgrund dieser Zeugenaussagen eröffnet die Staatsanwaltschaft jetzt – inzwischen ist es April 2016 – auch ein Verfahren gegen Stephan. Der Vorwurf: Falsches Zeugnis. Es ist einer der wichtigsten Rechtsgrundsätze in einem Strafverfahren. Wer als Zeuge aussagt, muss die Wahrheit sagen. In Artikel 307 des Strafgesetzbuchs steht dazu: «Wer falsch aussagt, einen falschen Befund oder ein falsches Gutachten abgibt oder falsch übersetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.»
Das Verfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung gegen den Polizeioffizier wird im Gegenzug sistiert. Mit anderen Worten: Die Staatsanwaltschaft glaubt eher, dass Stephan den Polizeioffizier zu Unrecht beschuldigt, Insiderwissen ausgeplaudert zu haben.
Angeklagter: «100 Prozent sicher»Zwei Jahre später, gestern Mittwoch, kommt der Fall in Lenzburg vor das Bezirksgericht. Stephan sagt: «Ich bin schon erstaunt über diese Anklage. Ich habe vor zwei Jahren die Wahrheit gesagt.» Er sei sich zu 100 Prozent sicher, dass er die Information von seiner Schwiegermutter oder seiner Frau gehabt habe. Gerichtspräsident Daniel Aeschbach, diesmal als Einzelrichter im Einsatz, hakt nach: Ob er andere Quellen als den Polizeioffizier ausschliesse? «Ja», sagt Stephan. Er habe keinen Grund, den Dienstchef «in die Pfanne zu hauen». Im Gegenteil: Der Streit darum, wer wen zu Unrecht beschuldige, habe seine Familie zerstört: Stephan ist nicht mehr mit seiner Frau zusammen, nach den Einvernahmen 2016 zog sie in eine eigene Wohnung.
Die Schwester und der Sohn des Beschuldigten sind als Zeugen geladen. Sie belasteten den Dienstchef Forensik ebenfalls – obschon Gerichtspräsident Aeschbach die Zeugen mehrfach explizit darauf hinweist, dass sie sich mit einer Falschaussage strafbar machen könnten. Die Zeugen erklären, dies sei ihnen bewusst. Stephans Sohn, 23, belastet den Offizier gar zusätzlich. Er erzählt, man habe immer ein gutes Verhältnis zueinander gehabt, «bis zu dieser Sache».
Der Offizier habe ihn eines Abends an seinen Wohnort gebeten. Sie seien zu zweit spazieren gegangen. «Er sagte mir, falls ich einvernommen werden sollte, solle ich vage bleiben und bei Sachen, die jemanden belasten könnten, sagen, ich wisse es nicht mehr. So gerate ich selber nicht in Schwierigkeiten.» Das habe ihn verunsichert, und er habe nachgefragt, wo er zum Beispiel vage bleiben müsse. «Er sagte, wenn es etwa darum gehe, dass man einen halben Fingerabdruck am Tatort gefunden habe oder wie brutal die Kehlen durchschnitten worden seien.» Gerichtspräsident Aeschbach sagt: «Das ist dicke Post. Sie beschuldigten den Offizier damit der Amtsgeheimnisverletzung. Ist Ihnen das bewusst?» – «Ja. Das ist es mir.»
Aeschbach spricht Stephan in dubio pro reo vom Vorwurf des falschen Zeugnisses frei. Die Aussagen Stephans und der Zeugen seien glaubhaft. Es gebe auch keine Anzeichen einer Verschwörung: Niemand habe etwas davon, den Offizier zu diskreditieren. Gleichzeitig betonte Aeschbach, dass für alle Beteiligten, insbesondere den Offizier, die Unschuldsvermutung gelte. (aargauerzeitung.ch)