Warum funktioniert so vieles nicht an der Migrationspolitik? Ein wichtiger Grund ist, dass die Migrationspolitik den Schaden nicht berücksichtigt, den sie im Ausland verursacht, sagt der Jurist Stefan Schlegel. Müssten wir diesen Schaden ausgleichen, würde uns das vermutlich zu teuer zu stehen kommen.
Herr Schlegel, wann kamen Sie zum ersten Mal bewusst mit dem Thema Migration in Kontakt?
Stefan Schlegel: Ich bin im st.gallischen Buchs aufgewachsen, ein Grenzbahnhof. Der Bahnhof war das Tor zur Welt. Ich habe Erinnerungen an die Ankunft einer grossen Zahl von Flüchtlingen aus Bosnien, während des Balkan-Krieges. Am Bahnhof Buchs hängt auch eine Plakette, auf der die Ungarnflüchtlinge der Schweiz danken für die Aufnahme in den 50er-Jahren. Ich frage mich manchmal, ob die Flüchtlinge, die heute kommen, ebenfalls Grund haben werden, um dankbar zu sein. Und wenn nicht, warum nicht?
Sie sind einer der härtesten Kritiker des Migrationsrechts in der Schweiz. Aber Sie wollen nicht weniger, sondern mehr Migration.
Ich kritisiere in erster Linie die Wertvernichtung, die das Migrationsrecht bewirkt. So wie es jetzt ausgestaltet ist, schaffen Staaten «totes Kapital». Das heisst nicht automatisch, dass ich mehr Migration will.
Was meinen Sie mit «totes Kapital»?
In meinem Buch nehme ich das Schicksal eines Mannes aus Bangladesch als Beispiel. Der Mann verbrachte 17 Jahre in der Schweiz, ohne arbeiten zu können. Die Gerichte und Behörden verweigern ihm die Arbeitserlaubnis, er ist zur Untätigkeit verdammt, muss Nothilfe beantragen. Die Differenz zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was das Migrationsrecht ermöglicht hat, ist totes Kapital, eine gigantische Verschwendung von Arbeitskraft, von Lebenszeit und Lebensqualität – unabhängig von moralischen Erwägungen.
Sie behaupten, dass Migration einen gesamtwirtschaftlichen Preis hat – für alle beteiligten Parteien.
Fast. Ich gehe der Frage nach, ob das Migrationsrecht in der Schweiz so ausgestaltet ist, dass es gesamtwirtschaftlich möglichst effizient ist. Entscheidend dabei ist die Frage, wem die Kontrolle über Migration ökonomisch den grössten Nutzen verspricht. Dem Herkunftsland, dem Zielland oder den (potentiellen) Migrierenden selbst?
Und wem nützt sie am meisten?
Höchstwahrscheinlich sind das grundsätzlich die Migrierenden selber. Das heisst umgekehrt: Die Kontrolle über Migration liegt momentan nicht bei denen, für die sie den höchsten Wert hat. So wie das Migrationsrecht aktuell ausgestaltet ist, findet Wertvernichtung statt, der Kuchen ist also insgesamt kleiner, als er sein könnte. Die Zielstaaten mit ihren Abschottungstendenzen schaffen totes Kapital. Angenommen, die Staaten müssten diesen Schaden ausgleichen, indem sie potentielle Migrierende dafür entschädigen, dass sie nicht kommen dürfen, könnten sie sich das kaum leisten. Staaten verursachen durch ihre Migrationspolitik also einen grösseren Schaden, als sie ausgleichen könnten, wenn sie ihn denn ausgleichen müssten.
Sie fordern also eine Entschädigung für Migrierende? Ein ziemlich wildes Gedankenspiel.
Als konkrete Idee ist das total unrealistisch, völlig klar. Das sollte kein Hindernis sein, sie zu äussern. Denn ich glaube, dass schon viel getan ist, wenn wir anders über Migration nachdenken und wenn wir anfangen, zu verstehen: Wer Migration verhindert, fördert Armut.
Die Schweiz, die EU-Länder und andere westliche Staaten produzieren Armut, indem sie Migration verhindern?
Ja, man muss sich Migrationssteuerung ähnlich wie die Klimaerwärmung vorstellen. In dem Moment, in dem man in der Umweltpolitik begriff, dass lokale Handlungen globale Effekte haben, hat sich in der Diskussion viel geändert. Wenn man nun über die Verhinderung der Migration so nachdenken würde wie über die Emission von Treibhausgasen, nämlich als Verursachung eines Nachteils, den im Ausland irgendjemand tragen muss, wären wir einen grossen Schritt weiter. Dafür müssten wir aber von der Idee Abschied nehmen, die Verhinderung von Migration als natürliches Recht der Staaten zu sehen. So wie wir davon Abstand genommen haben, die Verursachung von Treibhausgasen als natürliches Recht anzusehen.
Die Migrierenden in Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer auf ihre ökonomischen Chancen hin zu bewerten, ist ziemlich zynisch.
Ob eine ökonomische Perspektive auf irgendein Problem zynisch ist oder nicht, hängt davon ab, wie man ökonomische Ziele zu anderen Zielen stellt. Wenn man denkt, Effizienz sei das einzige entscheidende Ziel, ist man schnell zynisch. Wenn man denkt – wie ich – dass Gerechtigkeit ein Veto haben sollte über Effizienz, dann nicht.
Ihre Theorie verträgt sich aber nicht so gut mit der Realität. Die Zustimmung zur Migration ist gegenwärtig auf einem Rekordtief – im Gegensatz zum grenzübergreifenden Waren-, Dienstleistungs- oder Kapitalverkehr.
Ich würde in Zweifel ziehen, dass der freie Verkehr von Dienstleistungen und Waren unumstritten ist. Schauen Sie sich die heftigen Proteste gegen die grossen Freihandelsabkommen wie TTIP oder TISA an, oder aktuell die G20-Demos oder die Vorbehalte gegenüber den Effekten der Bilateralen I. Und dieser Vorbehalt wird ja, wie bei der Migration, auch identitär aufgeladen. Als das Postauto, das nach Oberschan fährt, neu einen österreichischen Konzessionär bekam, hat das dem zuständigen Regierungsrat Todesdrohungen eingehandelt.
Gut, aber es ist Fakt, dass es spätestens nach der Flüchtlingskrise schwieriger ist, Mehrheiten zu holen mit der Forderung nach mehr Migration.
Ja, klar. Aber auf dem Papier sollte es eigentlich keinen Unterschied machen, ob man gegen den Import von Arbeitskraft oder von arbeitsintensiven Produkten ist – auf dem Papier läuft beides auf den Schutz vor Konkurrenz heraus. Also sollte man konsequenterweise entweder für oder gegen beides sein. Dieses Konkurrenzerlebnis ist extrem wichtig bei der Wahrnehmung von Migration. Wenn Migration nicht zur Konkurrenz führt, dann ist sie in den Augen der bereits Anwesenden viel weniger ein Problem. Dann treten auch identitäre Aspekte in den Hintergrund.
Aktuell dominieren aber gerade diese identitären Aspekte in der politischen Debatte.
Das stimmt schon, aber es ist wichtig, zu unterscheiden, was davon echt ist und was fabriziert.
Wie meinen Sie das?
Die identitären Narrative der Rechtsnationalen sind vielfach aus dünner Luft fabriziert und bauschen latent vorhandene Klischees und Vorbehalte auf. Das Narrativ der Islamisierung beispielsweise hat null empirische Grundlage. Und dennoch redet halb Europa seit ein paar Jahren von nichts anderem. Dieses Narrativ haben Menschen fabriziert, die daran ein gewisses Interesse haben, sei es als politisches Programm, um Wahlen zu gewinnen, oder, um sich selber vor Konkurrenz zu schützen.
Gibt es denn Staaten, Organisationen oder Rechtsordnungen, die Teile Ihrer Idee auf irgendeine Art schon praktizieren?
Es gibt schon Ansätze, die in diese Richtung gehen. Zum Beispiel wird in der Literatur vorgeschlagen, Menschen, die in einem Drittweltland geboren worden sind, eine Art Obolus zu entrichten. Die Überlegung dahinter ist die, dass die Farbe des Passes nichts anderes ist als eine Lotterie. In Schweden ist eine Zuwanderung grundsätzlich möglich, wenn man einen Arbeitsvertrag vorlegen kann, in dem Lohn- und Arbeitsbedingungen einem gewissen Mindeststandard entsprechen. Der Migrant oder die Migrantin liefert da also eine finanzielle Garantie, eine gewisse Grundsicherheit gegen die fiskalischen Risiken, die mit der Zuwanderung verbunden sind.
Sie haben selber längere Zeit in Kanada gelebt, einem klassischen Einwanderungsland. Was unterscheidet die Schweiz von Kanada?
In Einwanderungsländern wird Migration so behandelt wie andere menschliche Aktivitäten, die riskant, aber potentiell nützlich sind, zum Beispiel Autofahren: grundsätzlich erlaubt, aber reguliert. In der Schweiz hingegen ist Migration etwas grundsätzlich Verbotenes und nur ausnahmsweise Erlaubtes. Hierzulande herrscht bei Migrationsfragen eine paternalistische und identitäre Haltung vor. Bezeichnend ist, dass in der Schweiz eine restriktive Einwanderungspolitik ausdrücklich ein zulässiges öffentliches Interesse ist. Es geht vor allem auch um den Schutz einer «kollektiven Identität». In der politischen Rhetorik kommt das zwar kaum mehr vor, lebt aber dennoch weiter in der Idee des «ausgewogenen Verhältnisses» zwischen einheimischer und auswärtiger Bevölkerung. Ein sehr museales Verständnis, wenn Sie mich fragen.
Die Schweiz hat im internationalen Vergleich einen sehr hohen Ausländeranteil.
Es sind zwei verschiedene Sachen, ob das Land eine Nettozuwanderung aufweist oder ob es das Selbstverständnis eines Einwanderungslandes pflegt, bei dem Einwanderung also gerade ein Bestandteil der kollektiven Identität ist. Die Schweiz wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Einwanderungsland, zuvor hatte sie Humankapital exportiert. Im Unterschied zu Kanada, den USA oder Australien gab es nie dieses Selbstverständnis: «Wir sind ein Einwanderungsland und das ist Teil unserer Identität.»
Sind Sie zuversichtlich, dass sich das Migrationsrecht in naher Zukunft wandeln wird?
Ja. Überall dort, wo das Handeln eines Staates soziale Kosten verursacht, entsteht ein Druck auf diesen Staat. Der Klimawandel ist das klassische Beispiel, aber eigentlich kann praktisch jede Entwicklung im Völkerrecht auf den Druck zurückgeführt werden, mit externen Effekten umzugehen. Sei es das internationale Verkehrswesen, das internationale Postwesen, das Umweltrecht oder die Menschenrechte. Und nun wird der Druck auch bei der Migration stärker, die bisher domaine réservé der Nationalstaaten war.
Wer macht Druck?
Die Herkunftsstaaten zum Beispiel. Der Ausschluss ihrer Bürger aus dem Arbeitsmarkt der Zielländer verursacht eine wirtschaftliche Schädigung. Ob die Herkunftsländer das hinnehmen oder nicht, ist eine Frage ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht.
Solange die Herkunftsstaaten auf dem internationalen Parkett keine Stimme haben, können sie doch auch nicht Druck ausüben.
Haben sie aber. Die mit Abstand wichtigste Herkunftsregion von Migranten für der Schweiz ist die Europäische Union und der ist es bereits gelungen, Druck auszuüben. Sie hat der Schweiz Personenfreizügigkeit abgetrotzt – im Austausch für partiellen Binnenmarktzugang. Oder nehmen Sie das Beispiel Indien. Eines der zentralen Hindernisse bei einem Freihandelsabkommen ist die Frage der Dienstleistungen: Dürfen indische Bergführer ihre Dienstleistungen in der Schweiz anbieten? Und Indien hat einen starken Hebel: den Markt, zu dem die Schweiz Zugang haben will. Kurz gesagt: Freihandel wird es zunehmend nur zum Preis von Migration geben. Diese Dimension hat Theresa May etwa komplett unterschätzt.
Gut, da handelt es sich um Migration aus Industrie- und Schwellenländern. Viele Migranten stammen aber aus Drittweltländern. Die Schweiz hat kein Interesse, im Irak zu investieren. Welches Druckmittel gibt es dort?
Die Rückführung von irregulären Migranten. Jahrzehntelang versuchten es westliche Staaten mit der Peitsche und sagten: «Wir nehmen euch die Entwicklungshilfe weg, wenn ihr nicht ein Rückführungsabkommen unterzeichnet.» Aber das funktioniert schon länger nicht mehr. Jetzt ist man aufs Zuckerbrot umgestiegen und sagt: «Ihr verhindert irreguläre Migration, im Gegenzug kriegt ihr etwas dafür.» In diesem Moment haben die westlichen Staaten ihre Migrationshoheit abgegeben.
Wieso?
Weil es für die Herkunftsstaaten einen Anreiz schafft, mehr Migration zuzulassen, um mehr Zuckerbrot zu bekommen. Der springende Punkt ist, dass Staaten ihr Recht, Migration hoheitlich abzuwehren, zunehmend austauschen gegen Marktzugang – oder eben Kooperation bei der Rückführung.
Aber das sind doch Planspiele. Fakt ist, dass ein Gutteil der Bevölkerung in Europa von Lissabon bis Bukarest Migration ablehnt – ob aufgrund rationaler oder irrationaler Beweggründe.
Rechtlich hätten wir ja die Möglichkeit, unsere Souveränität bei der Migration zurückzuholen. Nur ist es schlicht aus ökonomischen Gründen unwahrscheinlich. Das werden wir in der Schweiz spätestens bei der Abstimmung über die Kündigungsinitiative herausfinden. Dann müssen wir alle die Karten auf den Tisch legen und die Frage beantworten: Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um Migration aus Europa wieder „steuern“ zu können – jedenfalls rechtlich? Sind wir bereit, dafür den partiellen Zugang zum Binnenmarkt zu verlieren? Mag sein, dass ich mich täusche, aber ich glaube, dass im Moment alles auf ein Nein hindeutet. Die Stimmbürgerschaft wird erkennen, dass die freie Zuwanderung das kleinere Übel ist. Da bin ich überzeugt.
Sie sind an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft unterwegs. In Göttingen forschen Sie an neuen Migrationswegen, auf Twitter schiessen Sie scharf gegen rechtsbürgerliche Politiker und illiberale Ideen. Mit der Operation Libero und Foraus engagieren Sie sich bei sachpolitischen Vorlagen. Wie geht das zusammen?
Ich weiss nicht, wie man sich mit einem genuin politischen Thema wie dem öffentlichen Recht befassen kann, ohne politisch zu sein. Ich bin ein zu politischer Mensch, um mit meiner Haltung hinter dem Berg zu halten. Und ich glaube, es dient letztendlich auch der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit, wenn jeder sieht, wo ich politisch stehe. Man kann mir dann vorhalten, dass in meiner wissenschaftlichen Arbeit lediglich die politische Haltung durchdrückt, dass der Wunsch Vater des Gedanken ist, dass es das Resultat einer ideologischen Position ist.
Und was entgegnen Sie dann?
Dass es sich im Gegenteil um stringente Argumente handelt, die unabhängig von meiner politischen Haltung funktionieren. Sowieso: Ich glaube niemandem, der sagt: «Ich bin apolitisch, ich befasse mich nur aufgrund wissenschaftlichen Interesses mit dem Thema.» Das ist unglaubwürdig.