Sie gleichen sich, die Bilder. Als Roger Federer die Fassung verliert, zieht Marin Cilic sein letztes Ass aus dem Ärmel: die Challenge. Wie schon im Vorjahr Rafael Nadal. Doch der zweite Aufschlag – er war auf der Linie. Punkt Federer, Satz Federer, Sieg Federer, Titel Federer. Er feiert bei den Australian Open seinen 20. Grand-Slam-Titel.
«Unglaublich», sagt er. Rod Laver, selber eine Tennis-Legende, hält die Szenen mit seinem Handy fest. Bei der Siegerrede bringt Federer gerade noch den Dank an sein Team über die Lippen. Dann versagt ihm die Stimme, fliessen die Tränen – mal wieder. Bei ihm, der das Siegen doch gewohnt ist.
Bei 30 von 72 Grand-Slam-Turnieren stand er im Final, bei 13 weiteren in den Halbfinals. 14 Jahre nach seinem ersten Triumph in Melbourne ist er neben Novak Djokovic und Ken Rosewall auch hier mit sechs Titeln Rekordsieger. Wieder beginnt das Ringen um Worte, die Suche nach dem Verborgenen, der Essenz, die das Phänomen Roger Federer erklärbar macht. Nicht nur Experten beissen sich an dieser Aufgabe die Zähne aus – auch Literaten, Philosophen, ja sogar Pfarrer sind der Versuchung erlegen, das Faszinosum erklären zu wollen.
Vor zwölf Jahren erscheint das erste Werk, «Das Tennisgenie» von René Stauffer. Es wurde alleine in der Schweiz über 35'000 Mal verkauft und in neun Sprachen übersetzt. Doch wer sich die Erstauflage gesichert hat, dem fehlen ein paar der aufregendsten Kapitel in dieser Geschichte: der Triumph bei den French Open, Olympia-Gold in Peking, den schleichenden Niedergang und die märchenhafte Rückkehr im Vorjahr. Und wie aus dem Ausnahmesportler erst eine Weltmarke, dann das Gesicht eines Millionen-Imperiums und zuletzt das Oberhaupt einer Grossfamilie mit vier Kindern wurde.
15-Jährig erklärte Federer einmal seine Faszination für das Tennis, davon besessen, in diesem Rechteck mit dem Netz nicht den Gegner, sondern den Ball, sein Freund und Feind zugleich, zu beherrschen. «Man sollte perfekt spielen können», sinnierte er. Es steht heute mehr denn je für seine Haltung zum Tennis, das für ihn mehr Lebensstil als Sport ist. Gäbe es diesen einen Athleten, der am Reissbrett fürs Tennis entworfen würde: Er käme dem Idealbild ziemlich nahe – kreativ, mit virtuosem Schlagarsenal, leichtfüssig, eiskalt im Moment der Wahrheit.
🏆20. ❤️ pic.twitter.com/WqUiSo3fd5
— Roger Federer (@rogerfederer) 28. Januar 2018
Das ist der Federer auf dem Platz, das war er schon immer. Doch es gibt auch jenen daneben: Nahbar, charmant, aufrichtig, humorvoll. Die Werte, für die er steht, weisen eine verblüffende Kongruenz mit jenen auf, die dem Tennis zugrunde liegen: Demut, Respekt, Bescheidenheit und Hingabe. Müsste man die letzten zwei Jahre seines Lebens in ein Kapitel pressen und ihm einen Titel geben: es wäre die Verwandlung zum Botschafter. Federer, der von sich sagt, er sei einfach nur ein normaler Junge gewesen, der sich getraut habe, grosse Träume zu haben.
Und doch geht noch viel zu oft vergessen, dass Träume meist nur dann in Erfüllung gehen, wenn sie Hand in Hand gehen mit Opferbereitschaft, Wille und Arbeitsethos. Hinter der glitzernden Fassade, dem ganzen Glamour, dem Wahnsinn auch, der ihn umgibt, steckt ein Arbeiter. Es ist das Los des Künstlers, dass selbst das einfach aussieht, was beschwerlich ist. Aus Angst vor einer Verletzung verzichtet Federer neben dem Tennis auf Sport: kein Squash, kein Ski, kein Fussball. Er sagt: «Ich spüre, dass ich mich in meinem Alter mehr erholen sollte.»
Missing the @usopen, but having an amazing time enjoying the Swiss mountains #OnTheMoveWithRF #Switzerland pic.twitter.com/xmtHqS72ix
— Roger Federer (@rogerfederer) 3. September 2016
Roger Federer hat sich zum Meister der Reduktion gewandelt und Gefallen am schlanken Spielplan gefunden. Das Interesse an ihm ist dadurch nur noch grösser geworden. Inzwischen geht seine Strahlkraft weit über diesen Wanderzirkus hinaus. Längst wird er in einem Atemzug mit den Grössten der Sportgeschichte genannt. Weil er bodenständig und doch weltmännisch ist. Bescheiden und doch selbstbewusst. Weltbürger und doch durch und durch Schweizer. Und weil ein Roger Federer Bekanntheit nie mit Bedeutung verwechselt.
Heute gibt es im Tennis kaum einen Rekord, den er nicht hält. Alleine das macht ihn zur Ikone der Sportgeschichte. Und doch fehlt ihm die gesellschaftspolitische Bedeutung eines Muhamad Ali, der ausserhalb des Boxrings mit seinem Kampf für die Gleichberechtigung der Afroamerikaner und dem Bekenntnis zum Islam das Sprachrohr zweier Minderheiten wurde. Federer wollte das nie. Er sieht sich vielmehr als Philanthrop denn als Rebell. Mit seiner Stiftung unterstützt er Kinder in den ärmsten Regionen Afrikas. Bis Ende Jahr sollen eine Million Kinder davon profitiert haben. Im April reist Federer nach Sambia.
Für einen, der so Aussergewöhnliches leistet, führt er ein erstaunlich gewöhnliches Leben. Eines im Luxus, klar, aber auch eines Mitten in der Gesellschaft, obwohl er im Schaufenster der Weltöffentlichkeit sitzt, immer im Fokus der Kameras und Mikrofone. Federer wehrt sich dagegen, Geisel seiner Popularität zu werden. Er fährt mit seinen Kindern im «Drämmli» in den Zoo. Er holt sie von der Skischule ab. Er mischt sich an der Basler Fasnacht unters Volk. Steht im Schwimmbad für ein Eis Schlange. Anderswo wäre das undenkbar. Doch Federer hat sich diesen Freiraum mit der Normalität, die er lebt, verdient.
Im Prinzip gab es viele gute Möglichkeiten, die Karriere zu beenden. Vor einem Jahr nach dem Märchensieg gegen Nadal. Im Sommer nach dem achten Wimbledon-Titel. Und nun nach dem 20. Grand-Slam-Erfolg. Doch Federer sagt: «Ich muss nicht auch noch kitschig aufhören.» Aus dem zuweilen Verbissenen ist ein Geniesser geworden. Seine Verletzung am linken Knie hat ihm seine eigene Endlichkeit vor Augen geführt. Seither kostet er jede Sekunde aus, die er auf den Bühnen, die ihm die Welt bedeuten, stehen darf. Wird er danach gefragt, was ihn antreibt, lautet die Antwort immer gleich, vielleicht banal: Er liebe das Tennis.
Sein Feuer, seine Leidenschaft, der Enthusiasmus – sie verblüffen jeden um Federer herum. Trainer Severin Lüthi sagt: «Es gibt keinen, der so viel Freude am Tennis ausstrahlt wie er. Bei Roger merkst du, dass er es einfach gerne macht.» Federer sei ein Phänomen. Ex-Profi Fabrice Santoro sagt: «Ich sage immer: Im Kopf ist Roger 16 Jahre alt, in den Beinen 26 und im Pass 36.» Auch Roger Federer wird älter. Auch seine Zeit läuft irgendwann ab. Doch noch ist es nicht so weit. Sein Sieg bei den Australian Open ist nur ein weiteres glorreiches Kapitel. Noch treibt ihn die Freude am Spiel an. Noch ist seine Geschichte nicht zu Ende geschrieben.