
Sag das doch deinen Freunden!
Ein junger Türke,
der fast sein ganzes Leben in der Schweiz verbrachte, wird mehrfach
straffällig. Das Bundesgericht ordnete seine unbefristete
Ausschaffung an. Der Türke wehrt sich vor dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und erhält
Recht. Darauf wird der Landesverweis auf zehn Jahre reduziert. Auch
dieses Verdikt akzeptiert der Verurteilte nicht, er geht erneut nach
Strassburg und gewinnt vor dem EGMR ein zweites Mal.
Es handelt sich
nicht um ein fiktives Beispiel. Der Fall ist echt: Emre E. wurde 1980
in der Türkei geboren und kam als Sechsjähriger in die Schweiz. Er beging zahlreiche Delikte, darunter schwere
körperliche Gewalt, Raub und Vergehen gegen das Waffengesetz, und
sass dafür im Gefängnis. Gegen seine Wegweisung wehrte sich Emre E.
vor dem EGMR mit Verweis auf den geringen Bezug zu seinem
Ursprungsland. 2008 und 2011 setzte er sich damit durch.
Solche Fälle will
die SVP in Zukunft verhindern: «Es ist das Ziel unserer Initiative,
bezüglich Landesverweisungen einen klaren, zwingenden Rahmen
vorzugeben. Diesbezüglich sollen die Gerichte nicht mehr jede Frage
selber entscheiden können», sagte der Zürcher Nationalrat Gregor
Rutz dem Tages-Anzeiger. Was die Urteile aus Strassburg angeht,
hat die SVP im Initiativtext eine eindeutige Vorgabe formuliert: «Die
Bestimmungen über die Landesverweisung und deren Vollzugsmodalitäten
gehen dem nicht zwingenden Völkerrecht vor.»
Für die Gegner der
Initiative sind Konflikte mit der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) programmiert. Sie argwöhnen, dass
die SVP mit der Durchsetzungsinitiative indirekt einen Austritt der
Schweiz aus der EMRK anstrebt, was die Partei bestreitet. Allerdings
kollidiert die Initiative mit weiteren internationalen Verträgen,
etwa dem Abkommen mit der EU zur Personenfreizügigkeit, das
Ausschaffungen von EU-Bürgern wegen Bagatelldelikten untersagt,
sowie der UNO-Kinderrechtskonvention, die die Rechte von
Minderjährigen schützt.
Wie die Gerichte mit
diesem Zielkonflikt umgehen werden, ist eine offene Frage. Der Berner
Staatsrechtler Jörg Künzli verwies im Interview mit der Aargauer
Zeitung auf die bisherige Praxis des Bundesgerichts. Dieses sei
bis jetzt «richtigerweise» davon ausgegangen, dass es sich an
geltende Verträge halten müsse – «auch wenn eine einzelne
Verfassungsbestimmung etwas anderes sagt». Zu diesen Verträgen
zähle auch die EMRK. Bleibe das Bundesgericht bei dieser Praxis,
werde die Durchsetzungsinitiative «sicher nicht vollständig
umgesetzt werden».
Andere Juristen sind
skeptischer, sie verweisen darauf, dass der detaillierte
Initiativtext wenig Spielraum bei der Urteilsfindung zulasse. Die
frühere Bundesrätin und Justizministerin Elisabeth Kopp erwähnte
in der Schweiz am Sonntag einen weiteren Aspekt: «Die
Gerichte stehen in der Schweiz unter politischem Einfluss. Richter
müssen von Parlamenten wiedergewählt werden. Wer sich nicht dem
politischen Mainstream fügt, wird abgestraft oder sogar abgewählt.»
Falls sich die
Gerichte an den Wortlaut des Volksbegehrens halten, dürfte einiges
an Mehrarbeit auf sie zukommen. Der renommierte Zürcher
Strafverteidiger Lorenz Erni, zu dessen Klienten neben «Promis» wie Sepp Blatter und Roman Polanski auch Kleinkriminelle gehören,
rechnet im Interview mit dem «Magazin» damit, dass nach einem Ja
am 28. Februar vermehrt Rechtsmittel ergriffen werden, «was zu
einer Mehrbelastung der Gerichte und zu Mehrkosten führt».
Weil selbst leichte
Vergehen zwingend zu einer Landesverweisung führen sollen, würden
auch «reuige» Straftäter praktisch dazu gezwungen, «alle
Möglichkeiten auszuschöpfen, um der Landesverweisung doch noch zu
entgehen», glaubt Erni. Auf der «Gegenseite» beurteilt man dies ähnlich.
Der Berner Generalstaatsanwalt Rolf Grädel, Präsident der
Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz, warnte in der «NZZ am
Sonntag» vor Mehrkosten in zweistelliger Millionenhöhe.
Heute werden
leichtere Delikte in der Regel per Strafbefehl vom Staatsanwalt
sanktioniert. Wenn zusätzlich eine Landesverweisung drohe, bräuchten
zahlreiche Ausländer künftig einen amtlichen Verteidiger,
argumentiert Grädel, der pikanterweise Mitglied der SVP ist.
Verschiedene Gerichte, darunter das Bundesgericht, hätten in der
Vergangenheit entschieden, dass Beschuldigte, denen eine
Landesverweisung drohe, zwangsläufig verteidigt werden müssten. Der
Versuch, die Kosten bei den Verurteilten einzutreiben, sei in den
meisten Fällen erfolglos, so die «NZZ am Sonntag».
Es könnte aber noch
dicker kommen: Grädel geht davon aus, dass straffällige Ausländer
mit der möglichen Ausschaffung vor Augen vermehrt «den
vollständigen Instanzenweg» in Anspruch nehmen werden. Mit anderen
Worten: Aus einem simplen Strafbefehl kann ein ausgewachsenes
Gerichtsverfahren entstehen, mit entsprechendem Aufwand und Kosten
für die Allgemeinheit. Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) wären
2014 mehr als 10'000 Personen aufgrund der Bestimmungen der
Initiative ausgewiesen worden – die Hälfte davon wegen leichterer
Delikte.
Alles Panikmache? Es
gibt ein illustres Beispiel dafür, dass härtere Strafen den
Justizappart nicht entlasten, sondern zusätzlich auf Trab
halten: In den USA ist es teurer, einen Menschen hinzurichten, als
ihn für den Rest seines Lebens ins Gefängnis zu stecken. Der Grund
ist simpel: Wer um sein Leben fürchtet, greift nach jedem juristischen
Strohhalm, mit entsprechenden Kosten. Sie gelten als Grund dafür, warum
die Akzeptanz der Todesstrafe in den USA rückläufig ist.
Bei der
Durchsetzung-Initiative geht es nicht um Leben und Tod. Aber auch
eine Ausweisung aus der Schweiz ist eine einschneidende Massnahme. Die
Vermutung, dass langwierige und kostspielige Verfahren zunehmen
werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Wer sich über Emre
E. aufregt, sollte dies bedenken. Derart krasse Einzelfälle werden durch die Initiative nicht verhindert, sie werden sich häufen.