Seit die Tage wieder länger werden, tragen viele gerne T-Shirts. Und manche damit ihre gesammelten Lebensweisheiten auf der Brust. Denn die Shirts zieren oft flotte Sprüche, die vorrangig in den Souvenirläden der Feriendestinationen angeboten werden.
Weit oben auf der Beliebtheitsskala ist die ultimative, auf Baumwolle festgehaltene Aufforderung: «Lebe deinen Traum!
Doch was nach verlockender Weisheit klingt, ist nur allzu oft eine Falle. Klar möchten wir alle unsere Träume umsetzen, die Frage ist nur, aus welchem Stoff diese Sehnsüchte sind.
Sicher ist, dass bei den suggerierten Träumen die Trauben hoch hängen. Ferien in Rimini oder Tickets für ein spezielles Konzert gehören nicht in diese Kategorie. Es muss schon etwas Aussergewöhnliches oder Exklusives sein. So von der Preisklasse: Job an die Angel hängen und auswandern. Sich als spiritueller Meister in der Esoterikszene zu behaupten. Einen Ferrari leasen, obwohl die Finanzierung nicht gesichert ist. Kurz: etwas Mutiges machen, etwas Verrücktes wagen.
Den Ursprung für solche Lebensweisheiten legte die Esoterik. Sie versucht, die physikalische Welt neu zu definieren und geistige wie spirituelle Grenzen zu verschieben. Dies tut vor allem ein besonderer Ast am Eso-Baum: das positive Denken. Es ist das Biotop, in dem Wunder blühen.
Zu den Paten und Pionieren des positiven Denkens gehört der Amerikaner Joseph Murphy. Er garantiert mit seiner suggestiven Methode ein Leben in Saus und Braus. Was wir in Gedanken oder in der geistigen Welt visualisierten, verwirkliche sich automatisch in der materiellen Welt, behauptet der Autor vieler sehr erfolgreicher Bücher.
Es reiche, vor dem Einschlafen auf sein Bankkonto zu meditieren, worauf dieses mit Bestimmtheit rasch anwachsen werde. Als Beispiel nennt er den Umstand, dass ein Hochhaus vor dem Bau schliesslich auch zuerst im Geist entstanden ist.
Anstrengung war gestern, heute gibt es laut Murphy Reichtum im Schlaf. «Reichtum ist eine gute Gewohnheit, Armut dagegen eine schlechte – das ist der ganze Unterschied zwischen Reichtum und Armut», schreibt er. Er meint es nicht zynisch, sondern in heiligem Ernst. Und er setzt noch einen drauf und erklärt die Armut für eine geistige Krankheit.
Murphy machte mit seinen aberwitzigen Versprechen Hunderttausende Leser, die an seine Methoden glaubten, zu Versagern. Ein Beispiel: Wie soll ein Handwerker, der eine fünfköpfige Familie zu versorgen hat, seine Träume verwirklichen? Versucht er es nach den Rezepten der positiven Denker, macht er nicht nur sich zum Opfer, sondern auch seine Frau und die drei Kinder.
Der vermutlich einzige Erfolgreiche in diesem Umzug blieb Murphy selbst, verdiente er doch mit seinen Büchern und Vorträgen ein riesiges Vermögen.
Beim positiven Denken programmieren wir unser Bewusstsein mit suggestiven Energien und irrationalen Ideen. Die Autosuggestion produziert haufenweise Verlierer, die schliesslich Selbstzweifel entwickeln, das Selbstwertgefühl verlieren und möglicherweise psychische Belastungen erleiden.
Es sei denn, sie seien so schon stark in der Welt des positiven Denkens verstrickt, dass sie alle negativen Erlebnisse und Erfahrungen verdrängen und in eine Scheinwelt flüchten. Was an sich schon eine Auffälligkeit ist.
Der Zwillingsbruder des positiven Denkens ist der Erfolgszwang. Reichtum, Karriere und Selbstoptimierung sind die neuen Ersatzreligionen. An diesen Ansprüchen scheitert die grosse Mehrheit. Ihre Träume platzen. Statt Reichtum resultieren Schulden. Der Steuerbeamte, der sich als Vermögensverwalter selbstständig macht, verliert seine Investitionen und die Pensionskasse.
Aus vielen positiven Denkern werden Verlierer, Egoisten und Narzissten. Der Erfolgszwang verdrängt das Glück. Da haben die in der Esoterik gern beschworenen Attribute Demut und Achtsamkeit keinen Platz mehr. Doch der esoterische Pfad ist gespickt mit Widersprüchen. Dabei sind Rückschläge und Niederlagen wichtige Elemente einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung.
Die positiven Denker berauben sich wichtiger menschlicher Erfahrungen. Ihre Selbstindoktrination kann zu einer emotionalen Regression führen. Es ist eine kindlich-naive Weltsicht, wenn man glaubt, Reichtum und Glück durch mentale Konditionierung herbeizwingen zu können.
Deshalb: lieber kleine Träume realisieren als an überrissenen scheitern.