Die Zürcher Beratungsstelle InfoSekta beobachtet seit über 30 Jahren die Sektenlandschaft in der Schweiz und berät Betroffene, mehrheitlich Angehörige von Sektenanhängern, Fachleute wie Lehrer und Psychologen und Aussteiger. Die Mitarbeiter erfassen ihre Arbeit statistisch und liefern einen guten Überblick über die gesellschaftspolitische Entwicklung in der Sektenszene.
Der soeben veröffentlichte Jahresbericht 2021 zeigt auf, dass der gesellschaftliche Graben, der sich in der Corona-Pandemie öffnete, weiter besteht. Dies überrascht, denn das Virus ist weitgehend aus der öffentlichen Diskussion verschwunden und führt in der politischen Agenda ein Randdasein.
Doch das Fieber ist bei den radikalen Skeptikern und den Verschwörungstheoretikern noch nicht abgeklungen. Ein Fieber, das sektenhafte Qualität hat.
InfoSekta schreibt dazu: «Viele Angehörige hegten die Hoffnung, dass sich mit der Überwindung der Corona-Krise auch die familiären Konflikte um Verschwörungsmythen wieder legen würden. Während sich diese Hoffnung bei einigen erfüllte, mussten andere ernüchtert feststellen: Die Radikalisierung des geliebten Familienmitglieds läuft mit anderen Inhalten weiter.»
Kurz: Viele Skeptiker haben ihre radikale Haltung in der Corona-Zeit kultiviert und leben sie nun auf anderen Feldern aus. Sie kaprizieren sich heute auf allgemeine Verschwörungstheorien (Flache Erde, Reptiloide, jüdische Weltverschwörung, Fake-News-Kultur usw.) und die Putin-Verehrung. Denn rund ein Drittel der Erstanfragen betrafen Verschwörungsmythen.
Ein Blick in die Statistik zeigt weiter, dass InfoSekta im vergangenen Jahr 2937 Kontakte mit Ratsuchenden hatte. In den letzten fünf Jahren hat die Zahl im Schnitt jährlich um 100 Kontakte zugenommen. Zum Vergleich: 2013 waren es lediglich 1750 Kontakte.
Zwar sind Sektenthemen weitgehend aus den Medien und dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, die Probleme rund um das Sektenphänomen haben sich aber verschärft. Bei der Verteilung der problematischen Glaubensgemeinschaften und Sekten zeigt sich ein überraschendes Bild: Die überwiegende Zahl der Erstanfragen (25%) betrafen die Zeugen Jehovas, die bei breiten Teilen der Bevölkerung nicht im Ruf stehen, eine radikale Sekte zu sein. Wohl zu unrecht.
Auf Platz zwei der unrühmlichen Hitliste steht Scientology (5%), gefolgt von der Freikirche International Christian Fellowship ICF (2%). 68% der Anfragen betrafen andere Gruppen und Probleme wie Freikirchen, Evangelikalismus, Fundamentalismus, Konversionstherapie, islamistische Radikalisierung, Rechtsextremismus, Staatsverweigerer, Okkultismus, satanisch-rituellen sexuellen Missbrauch, Verfolgungsgefühle und vieles mehr.
InfoSekta schreibt dazu: «Seit vielen Jahren widerspiegelt sich in den Anfragen die grosse Vielfalt der Weltanschauungslandschaft: 68% der Anfragen bezogen sich auf rund 260 bekannte und eher unbekannte Vereinigungen und Einzelanbieterinnen. (…) Viele Anfragen betrafen evangelikale Gemeinschaften wie Jugend mit einer Mission, Christ Embassy mit Pastor Chris Oyakhilome, Geschlossene Brüder, Gemeinde für Christus, Pioneer Training School PTS, Camp Rock oder YOU Church und ferner die Organische Christus-Generation OCG von Ivo Sasek und die Neuoffenbarer-Gemeinschaft Shinchonji aus Korea.»
Unterteilt man die Gruppen und Bewegungen nach weltanschaulichen und religiösen Kategorien, ergibt sich folgendes Bild: 51% der Anfragen betrafen das christliche, 25% das esoterische und 19% das säkulare Umfeld. Bei den christlichen Gruppen schwingen die Zeugen Jehova obenaus (48%), gefolgt von evangelikalen Gemeinden (16%).
Ein Vergleich mit früheren Jahren zeigt die Verschiebung der Sektenlandschaft. So erhielt InfoSekta 2003 am meisten Anfragen zur christlich-fundamentalistischen Trendkirche ICF. An zweiter Stelle figurierte Scientology, gefolgt von den charismatischen Freikirchen der Pfingstbewegung.
2011 führte Scientology (6%) die Liste an, gefolgt von den Zeugen Jehovas (5%), ICF (4%) und der damals bereits aufgelösten Psychosekte VPM (Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis9 (3%).
2018 zeichnete sich die Verschiebung innerhalb der Sektenlandschaft schon deutlich ab. Während die amerikanische Grosssekte Scientology mit nur noch 3% auf Platz drei abrutschte, schossen die Zeugen Jehovas auf Rang eins (15%). Auf Platz zwei (5%) kam mit «YOU Church» eine weitere Freikirche.
Der Trend ist klar: Die aus dem Ausland in die Schweiz drängenden Sekten, spirituellen Gemeinschaften und esoterischen Gruppen haben offensichtlich an Attraktivität verloren, die christlich dogmatischen bis fundamentalistischen Gemeinschaften und Freikirchen führten vermehrt zu familiären und gesellschaftlichen Problemen.
Daraus lässt sich auch die Aussage ableiten, dass Sekten wie Scientology heute weniger Missionserfolge verzeichnen können, während problematische christliche Gruppen an Dynamik zulegen.
Offensichtlich besinnen sich viele Menschen in Krisenzeiten auf die traditionellen Werte der christlichen Kultur und suchen Halt in dogmatischen Glaubensgemeinschaften.