Leben
Blogs

Zehntausende Krebs-Betroffene – und fast niemand spricht darüber

Bild
Bild: Shutterstock
Rund um Gsund

Zehntausende Krebs-Betroffene – und fast niemand spricht darüber

Jedes Jahr erkranken 45’000 Menschen in der Schweiz an Krebs. Und immer noch sprechen Betroffene und ihr Umfeld selten und ungern darüber. Dabei wäre es wichtig, um anderen zu helfen.
12.09.2023, 13:55
Sandra Casalini
Sandra Casalini
Mehr «Leben»

«Nichts leichter als das», dachte ich, als ich vor einigen Jahren angefragt wurde, ob ich Ideen hätte, wie man das Medieninteresse für den Berner Benefiz-Velomarathon Race for Life, der sich für die Unterstützung von Krebsbetroffenen engagiert, ein bisschen steigern könnte. Das Thema betrifft doch jede und jeden in der einen oder anderen Art und Weise, wenn nicht persönlich, dann indirekt. Und weil ich vom People-Journalismus her komme, habe ich mal bei diversen Prominenten in die Runde gefragt, ob man sich vorstellen könnte, sich zu engagieren und über seine persönlichen Erfahrungen zu reden.

Wir schämen uns, wenn wir krank sind

Mit den Antworten hätte ich wirklich nicht gerechnet. Sich engagieren, ja, spenden, ja, selbst vor Ort in die Pedale treten, ja – persönliche Erfahrungen teilen, «lieber nicht». Der meistgehörte Satz: «Ich möchte nicht mit meinem Schicksal hausieren.» Das hat mich, die ich bis anhin in meinem Umfeld kaum von dem Thema betroffen war, extrem nachdenklich gemacht. Empfinden wir es hierzulande wirklich als «hausieren», wenn wir darüber reden, von einer Krankheit betroffen zu sein, oder dass jemand uns Nahestehendes daran leidet, wir jemanden deswegen verloren haben? Ja, offenbar tun wir das. Wir schämen uns, wenn wir krank sind. Wir haben das Gefühl, zu jammern oder uns wichtigzumachen, wenn wir darüber reden. Das ist doch absurd.

Seither fallen mir – sensibilisiert für dieses Thema – immer mehr solcher Geschichten auf. Zum Beispiel die einer Bekannten, die mir, als ich ihr von meinem Engagement fürs Race for Life erzählte, gestand, dass sie Brustkrebs hatte und durch alle OPs und Chemos alleine war, weitergearbeitet hat, als wäre nichts, und niemandem ausser ihrem Partner was gesagt hat. Auf meine Frage nach dem Warum meinte sie, sie hätte Angst gehabt, als Selbstständige keine Jobs mehr zu bekommen, da man an ihrer Zuverlässigkeit gezweifelt hätte, wenn man sie als krank wahrgenommen hätte. Oder ein Bekannter, der seinen Lungenkrebs verschwieg. Weil er sich schämte, und «weil ich irgendwie dachte, ich sei selbst schuld». Obwohl er vielleicht fünf Zigaretten raucht pro Jahr.

Ich ziehe all meine Hüte vor Lerna

45’000 Menschen erhalten in der Schweiz pro Jahr eine Krebs-Diagnose. Was diesen Menschen und ihrem Umfeld helfen würde? Zu wissen, dass sie nicht allein sind. Zu wissen, dass sie nichts dafür können. Und zu hören, wie andere damit umgehen. Eine, die sich traut, über ihr Schicksal zu sprechen, und das auch immer wieder öffentlich tut, ist meine Freundin Lerna. Sie leidet am Lynch-Syndrom, einem Gendefekt, der die Entstehung von Krebs begünstigt. Hirntumor, Leber-, Darm- und Bauchfellkrebs, Lerna blieb nicht viel erspart. Als der Tumor sich in ihrem Magen breitmachte, musste dieser ganz entfernt werden, seither lebt sie ohne dieses Organ.

Lerna ist eine der mutigsten und lebensbejahendsten Menschen, die ich kenne. Sie backt mit Leidenschaft Torten für andere. Sie selbst isst sie nicht – nicht, weil das ohne Magen nicht ginge, sondern weil sie einfach Süsses nicht besonders mag. Manchmal hadert sie mit sich, ihrem Schicksal, und der Tatsache, dass sie so viel Zeit im Spital verbringt, und dass vieles, was für andere selbstverständlich ist, für sie nicht möglich ist. Auch dann spricht sie darüber. Weil's – im Gegensatz zu all den anderen instaperfekten Social-Media-Posts – hilft. Ihr selbst und anderen. Das hat nichts mit Jammern oder Hausieren zu tun. Sondern mit ganz viel Mut, zu zeigen, dass das Leben nicht immer perfekt ist. Und trotzdem gelebt werden darf. Ich persönlich ziehe einmal mehr all meine Hüte vor Lerna und allen anderen, die sich nicht dafür schämen, krank zu sein.

Jetzt liegt der Ball bei euch. Was habt ihr für Erfahrungen mit Krebs? Redet darüber!

Sandra Casalini, bei sich zu Hause in Thalwil, am 04.12.2018, Foto Lucian Hunziker
bild: Lucia Hunziker

Über die Autorin:

Sandra Casalini schreibt über mehr oder weniger alle und alles, was ihr über den Weg läuft – immer gnadenlos ehrlich und mit viel Selbstironie. Genau so geht sie auch den Blog «Rund um Gsund» an, der ab sofort alle zwei Wochen auf watson erscheinen wird. Bei dem Thema Gesundheit verhält es sich bei Sandra gleich wie mit der Kindererziehung: Sie ist keine Expertin, aber kommt mit beidem irgendwie klar. Manchmal mit Hilfe, manchmal ohne.

Casalinis Texte erscheinen regelmässig im Elternmagazin «Fritz und Fränzi» und der «Schweizer Illustrierten». Bei der SI gewährt sie zudem wöchentlich Einblick in ihr Leben mit pubertierenden Kids im Blog «Der ganz normale Wahnsinn».

Gesundheit und Ernährung

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Mit Protonentherapie Krebs besiegt
1 / 6
Mit Protonentherapie Krebs besiegt
Der fünfjährige britische Krebspatient Ashya King hat die Krankheit offenbar besiegt, meldet die Familie des Kindes.
quelle: epa/epa file / filip singer
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Gebe ich Methadon dazu, kann ich den 100% Zelltod erreichen.»
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
33 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Puudel
12.09.2023 15:27registriert August 2023
Dä Chräbs isch en huerä Souhund.

Du hast recht, wir sollen darüber reden. Und fluchen, und dissen und verwünschen. Meiner kam erstmals 2019, um meinen Darm zu killen, wurde rausgeschnippelt, gab fast drei Jahre Ruhe, und hat dieses Jahr nun einen Fünftel meiner Lunge gefressen, und dazu einige Metastasen produziert. Ich hasse dieses Scheissviech leidenschaftlich, Chemo ist (buchstäblich) zum Kotzen, aber unvermeidlich, da ich halt mit der Eso-Ecke so gar nichts am Hut finden kann.
Jawoll, reden wir darüber! Laut und gefühlvoll!
Meine besten Wünsche an alle Betroffenen.
612
Melden
Zum Kommentar
33
Neues Tool von OpenAI: So täuschend echt sehen die KI-Videos aus

Das weltweit führende KI-Start-up OpenAI hat seine mit Spannung erwartete Software Sora auf den Markt gebracht, mit der man Videos mit künstlicher Intelligenz aus Text-Vorgaben erzeugen kann. Die Macher des KI-Chatbots ChatGPT wiesen zum Marktstart darauf hin, dass das neue Tool jedoch noch «viele Einschränkungen» hat, die die von Nutzern erstellten Videos beeinflussen können.

Zur Story