EM in Deutschland! Klar, dass jemand von der Chefredaktion auf die Idee kommt: «Baroni soll was zu deutschem Essen machen!» Gerne. Mach ich. Nun, Frage in die Runde: Was ist denn das deutsche Nationalgericht?
Eigentlich ist's klar: Da können irgendwelche Sauerbraten, Würste oder Eisbeine noch so sehr ins Spiel gebracht werden, keine Speise wird in Deutschland so oft gegessen, keine Speise kann einen ähnlichen internationalen Erfolg vorweisen wie ... der schlichte Döner Kebap.
Döner ist das deutsche Nationalgericht – analog wie Chicken Tikka Masala das britische Nationalgericht ist. Beide haben ausländische Wurzeln; beide wurden via Einwanderer-Communitys verbreitet; beide erfreuen sich derart grosser Beliebtheit, dass sie andere nationale Speisen längst in den Schatten stellen.
Somit ist auch der Döner ein Ergebnis langer kulinarisch-kultureller Wechselwirkungen und einer Kulturgeschichte, die im Mittelalter irgendwo in der Levante beginnt und beim Dönerstand vor einem deutschen Fussballstadion während der EM 2024 endet.
Laut dem deutschen Soziologen Eberhard Seidel existieren gar bereits um 1546 Skizzen vom arabischen Gelehrten Taqiyiadin aus Damaskus für einen mit Dampf betriebenen Dönerspiess. «Ganz so wie Leonardo da Vincis Flugmaschinen wurde der Grill zu Taqiyiadins Lebzeiten jedoch wohl nie gebaut. [...] Aber das zeigt: Den Gedanken, den Spiess auf die Füsse zu stellen, gab es wohl schon länger.»
Geht man davon aus, dass das Grillen am drehenden, senkrecht aufgestellten Spiess den Döner definiert, kann man erste Versionen des Gerichts bereits um 1830 belegen. Erwähnt ist etwa der Meisterkoch Hamdi, der im nordtürkischen Kastamonou zur Mittagszeit seinen Fleischspiess drehte. In Bursa beim Marmarameer war es der Koch Iskender Efendi, der ab 1867 einen Teil Hammelfleisch zu Hackfleisch verarbeitete und dieses zwischen weichgeklopften Fleischscheiben schichtete. Das gegrillte Fleisch wurde mit Joghurt und zerlassener Butter auf einer Lage geschnittenem Fladenbrot serviert, bekannt als Iskender Kebap. Auch der Name Döner Kebap soll erstmals in Bursa gebildet worden sein.
Ob Hamdi oder Iskender tatsächlich als Erfinder des senkrechten Fleischspiesses gelten dürfen, ist jedoch unsicher. Ähnliche Gerichte wie das arabische Schawarma aus Rindfleisch, das griechische Gyros oder das mexikanische Al Pastor aus Schweinefleisch werden zuweilen ebenfalls an einem senkrecht stehenden Drehspiess gebraten.
Wann genau der Döner nach Deutschland kam, ist nicht so eindeutig zu beantworten. Doch der Verein der türkischen Dönerhersteller in Europa hat sich auf das Jahr 1972 und auf Kadir Nurman festgelegt. Der in Anatolien geborene und in Istanbul aufgewachsene Gastarbeiter legte als Erster Fleisch in ein Fladenbrot und verkaufte somit den ersten Döner am Bahnhof Berlin Zoologischer Garten.
Im Alter von 26 Jahren kam er als gelernter Kaufmann nach Stuttgart. Anfang der 70er-Jahre zog er nach Berlin und erkannte schnell, dass die Deutschen viel arbeiten und oft wenig Zeit zum Essen haben. So kam er auf die Idee, das Kebap in ein Brot zu packen und als Snack zum Mitnehmen anzubieten.
Letzteres macht wohl auch den deutschen Döner aus: der Wandel zum Streetfood. Kebapfleisch vom Spiess kannte Nurman aus der Türkei; dort servierte man das Gericht aber nur in schicken Restaurants – im Teller, mit Reis oder Salat. In Frankfurt stand Döner schon 1960 im Restaurant Bosporus auf der Speisekarte – hier ebenfalls als Tellergericht, nicht im geviertelten Fladenbrot. In Berlin gab es gar seit der Kaiserzeit ein türkisches Restaurant in Charlottenburg. Den Ursprung des Döner Kebaps als Streetfood bilden diese Restaurants aber nicht. Dazu waren sie viel zu elitär.
Der Döner, so wie wir ihn heute kennen, hat sich in den randständigen Schichten der Gesellschaft gebildet. In Berlin-Kreuzberg gab es Anfang der Siebzigerjahre die perfekte Mischung: eine grosse türkische Gastarbeiter-Community, die den Döner kannte und konsumierte und die neue wirtschaftliche Chancen suchte, sowie ein internationales Milieu von Wehrdienstflüchtigen und alternativer Szene, aufgeschlossen für kulinarisch Neues. Auch die Wirtschaftskrise der frühen Siebzigerjahre war ein entscheidender Faktor (wiederum eine Parallele zum britischen Chicken Tikka Masala): Arbeiterschichten waren auf preisgünstige Mahlzeiten angewiesen. Beim Döner ist alles dabei: Brot, Fleisch, Salat.
So konnte der Döner auch seinen Siegeszug antreten. Erst in innerstädtischen Einwanderergebieten in Berlin und in Arbeitervierteln wie Neukölln, dann in den Städten im Ruhrgebiet, in Unistädten wie Tübingen, Freiburg und Würzburg. Dann über Deutschland hinaus.
Heute ist der Döner allgegenwärtig – auch international. Und nicht mehr wegzudenken als preisgünstiges, sättigendes Mittagsmenu für Handwerker und Studenten, als Energiezufuhr nach dem Fussballtraining, als rettendes Drunkfood auf dem Nachhauseweg nach dem Ausgang.
Der Döner, der gewissermassen als türkischer Kulturexport nach Deutschland zum Siegeszug ansetzte, ist nun zum erfolgreichsten kulinarischen Kulturexport Deutschlands geworden. Abertausende Fussballfans aus aller Welt werden sich gleich nach ihrer Ankunft in Deutschland auf die Suche nach einem geilen Döner machen.
Und zum Schluss noch schnell etwas Wichtiges: