Wenn ein führender Schweizer Konservenhersteller 75 Jahre Dosenravioli feiert, lohnt es sich, mal einen genaueren Blick auf dieses historisch und kulturell einflussreiche Produkt zu werfen.
Etymologisch und historisch lassen sich die gefüllten italienischen Teigwaren Ravioli bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Ravioli aus der Konservendose indes tauchten erstmals im Ersten Weltkrieg als Frontnahrung für die italienischen Streitkräfte auf. In den Folgejahren der Zwischenkriegszeit kamen erstmals Ravioli in Konservendosen auf den Markt. Zur damaligen Zeit verfügten viele Haushalte noch nicht über einen Kühlschrank. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte sich das Konzept mit diversen Marktführern in Europa und Nordamerika durch: Heinz in Grossbritannien, Buitoni in Frankreich, Chef Boyardee in den USA etwa – und Hero in der Schweiz.
Vorgänger der heute in der Schweiz bekannten Hero-Dosenravioli waren die seit 1936 produzierten «Super Raviolini alla Milanese» von der Konservenfabrik Seethal. Die Fabrik in Seon AG, ein Tochterunternehmen von Hero Lenzburg, wurde 1943 zwar geschlossen, ihre Rezeptur wurde aber 1948 von Hero als «exquisite italienische Delikatesse» neu lanciert – und zwar landesweit in der Schweiz.
Die aufwändige nationale Werbekampagne umfasste Prospekte, Kinowerbung und die Aufforderung an Detaillisten, mit den Dosen in ihren Geschäften Pyramiden aufzubauen. Für einen Grossteil der Schweizer Bevölkerung waren Büchsenravioli die erste Begegnung mit italienischer Esskultur. Als Convenience-Produkt befriedigten sie Konsumgelüste und Wünsche nach ausländischen Speisen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ausserdem war das Produkt eine Reaktion auf den beginnenden Massentourismus, bei dem Italien zu den Hauptzielen gehörte.
«Hurra, der Bräutigam kommt» hiess der Werbespot, der erstmals 1952 in den Kinos ausgestrahlt wurde (geschlagene vier Minuten lang ist das Ding – die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne war damals wohl länger). «Der Weg zur Ehe war mit Ravioli gepflastert», lacht Vreneli, die Braut, in Richtung Kamera, nachdem sie überglücklich unter den vielen Hochzeitsgeschenken ein paar Raviolidosen entdeckt. Der Clou: Ihr Bräutigam Angelo ist Italiener. Dessen erste Begegnung mit Vrenelis Eltern ist dank Hero-Ravioli ein voller Erfolg.
Unabhängig von der angepriesenen «Italianità» aus der Dose bestand aber für Hero eine andere wichtige Verbindung zum südlichen Nachbarland: Die steigende Nachfrage nach Konserven konnte vor allem dank der Arbeitskraft zahlreicher italienischer Migrantinnen und Migranten befriedigt werden.
Lanciert wurden Dosenravioli unter anderem mit dem Argument, dass nun sogar auch Männer (die bekanntlich nicht kochen können) selber etwas Warmes zubereiten können. Ach, die Fünfziger halt.
1958, ganze 10 Jahre nach Hero, zieht der Schweizer Konservenhersteller Maggi nach. In Deutschland kann sich das Produkt durchsetzen. Während in der Schweiz Hero unangefochtener Marktführer bleibt (aktuell mit einem Marktanteil von 40 Prozent), ist es im benachbarten Norden bis heute die Nestlé-Tochter Maggi.
Der Erfolg der Dosenravioli erlebte am 10. März 1978 einen jähen Dämpfer. Die als Agentenfilm aufgemachte «Kassensturz»-Sendung «Ravioli X-015» präsentierte dem TV-Publikum den Inhalt der Ravioli: Agenten klaubten die gräulich aussehenden Füllungen aus den Teigtaschen und fanden darin «qualitativ wenig befriedigende» Zutaten – bei einem Schweizer Hersteller etwa Innereien und gar Schweinsköpfe.
Nach der Sendung brach der Umsatz in der Schweiz um die Hälfte ein. Hero reagierte mit einer Inseratenkampagne: «Das ist drin: Rindfleisch, Speck und Tomatensauce – keine Innereien.» Ausserdem verklagten die Hersteller Hero Lenzburg und Roco Rorschach die Sendungsmacher und forderten Schadenersatz in Millionenhöhe. Ein Gericht urteilte später, der Beitrag sei trotz der reisserischen Aufmachung so zulässig. Die Hersteller zogen das Urteil nicht weiter – und so endete die Geschichte mit einem Vergleich zwischen den Kontrahenten. Es dauerte aber Jahre, bis das alte Umsatzniveau wieder erreicht werden konnte.
2022 wurden in der Schweiz mehr als 16 Millionen Franken für Büchsenravioli ausgegeben. Das entspricht knapp 6 Millionen Dosen. Während des Corona-Jahres 2020 stieg diese Zahl aufgrund der Hamsterkäufe auf über 18 Millionen Franken.
Der Büchsenravioli-Markt entwickelt sich somit – abgesehen vom Corona-Peak – längerfristig stabil; aktuell sogar leicht wachsend. Womit wir nun bei dem hier wären:
Leute, ihr müsst mir eine Frage beantworten. Seid bitte ehrlich:
Die Werbekampagne zum 75. Jubiläum des Hero-Produkts spricht von einem «Klassiker», der «heiss gliebt sit 75 Jahr» sei. Logisch tut sie das. Fragt man im Bekanntenkreis nach, befinden sich Büchsenravioli-Esser aber eindeutig in der Minderheit. Eine Umfrage in der Redaktion («Isst du noch Büchsenravioli?») ergab folgende Antworten:
Von 18 nur vier, die mit «ja» antworten. Und noch ein paar, die gerne würden, aber es (noch) nicht tun. Und bevor nun jemand (um die britische Innenministerin Suella Braverman zu paraphrasieren) die watson-Redaktion als «tofu eating wokerati» abtut: Die Antwortenden umfassen alle Alterssegmente sowie diverse Wohnregionen und Bildungsabschlüsse. Vielleicht lässt sich aber eine Konstante feststellen: Hat mindestens ein Elternteil eine italienische Herkunft, finden Büchsenravioli in der Kindheit schlicht nicht statt.
Ich selbst hatte meine erste richtige Begegnung damit erst in jüngster Vergangenheit, als ich sie in einem TikTok-Rezept einbringen musste (fairerweise muss man konstatieren, dass das betreffende Rezept auch ohne die Zugabe von Büchsenravioli grusig gewesen wäre):
Und deshalb wollen wir von EUCH hören, liebe Userschaft! Sind Büchsen-Ravioli für euch immer noch eine Konstante im Ernährungsalltag? Oder nur eine Erinnerung an Pfadilager und Militär? Braucht es dieses Dosenprodukt noch in einer Zeit, in der es eine grosse Auswahl an frischen Pasta-Fertigprodukten gibt, auf die man ausweichen könnte (Rana, Betti Bossi, Anna's Best und Co. lassen grüssen)?