Bis heute wird im Jura über das Schicksal von Rudolf Flükiger gerätselt. In der Nacht vom 16. auf den 17. September 1979 verschwindet der 21-jährige Berner Offiziersaspirant und Radfahrer während eines Postenlaufs auf dem Waffenplatz von Bure. Erst einen Monat später findet man seine sterblichen Überreste in der Gegend von Grandvillars in Frankreich.
Ein Suizid mittels Handgranate, wie das Ergebnis der Untersuchung in der Schweiz lautet, scheint unwahrscheinlich. Erstens, weil Rudolf Flükiger als solider und unbeschwerter junger Mann gilt, der sich wohl in seiner Haut fühlt, und zweitens, weil sich beim Militär seit 1943 nur drei oder vier Selbsttötungen mittels Handgranate ereignet haben – die meisten Suizide werden mit der Ordonnanzpistole verübt.
Bei der Explosion einer Handgranate des Modells 43 entstehen Fragmente mit einer Nummer, über die sich zurückverfolgen lässt, welche Truppe die entsprechende Serie erhalten hat. An der besagten Stelle soll jedoch offenbar keine Spur einer solchen Nummer gefunden worden sein.
Nur der untere Teil der Leiche wird zusammen mit Granatsplittern gefunden, vom Metall der Pistole und dem Leder des Halfters fehlt jedoch jede Spur. Die Hälfte der militärischen Erkennungsmarke liegt neben der Leiche. Ist es möglich, dass die Marke durch die Explosion zerrissen wurde? Der Stiel der Handgranate ist vorhanden, doch – und das ist das Beunruhigende – können weder Pistole, Kompass und Taschenlampe noch Deckel und Zünder der Handgranate gefunden werden.
Die Waffe hat sich durch die Explosion nicht etwa verflüchtigt, sondern ist sage und schreibe verschwunden, es sei denn, sie sei dem Aspiranten zuvor gestohlen worden, oder der Aspirant selbst hätte sie verloren. Ihre Nummer war im Dienstbüchlein des Aspiranten vermerkt. Es hat den Anschein, dass sie nie veröffentlicht wurde, obschon sich dadurch eine neue Fährte – in diesem Fall zu einem Verbrechen – hätte ergeben können. Als Erklärung für den noch immer ungeklärten Todesfall kommen drei Hypothesen in Frage:
(Drogen-)Schmuggler werden von einem rennenden Mann in blauem Overall überrascht, der eine Taschenlampe hält und an der Seite eine Pistole trägt. Sie halten ihn für einen Grenzwächter oder Polizisten und erschiessen oder erschlagen ihn. Um eine falsche Fährte zu legen, bringen sie die Leiche nach Frankreich. Mit einer aus einem schweizerischen Munitionsdepot gestohlenen Handgranate werden allfällige Spuren beseitigt.
Aspirant Flükiger wird im Umkreis des Waffenplatzes von Bure unfreiwillig Zeuge davon, wie Mitglieder der Roten Armee Fraktion den lebenden oder toten Hanns Martin Schleyer an einen neuen Ort bringen. Der Zeuge muss beseitigt werden.
Am 15. Oktober 1977 erhält die Redaktion der Zeitung «L’Impartial» aus La Chaux-de-Fonds ein anonymes Schreiben, das die Untersuchungsverantwortlichen von Beginn weg als Instrument eines pro-bernischen Ränkespiels einordnen (der Fall wurde denn auch tatsächlich instrumentalisiert). In diesem Schreiben gesteht ein angeblicher Bélier-Anhänger, der mit dem Brief sein Gewissen erleichtern möchte, Rudolf Flükiger sei in der Absicht entführt worden, den Fernsehkameras vor dem Bundeshaus einen nackten «Fritz» (Deutschschweizer) vorzuführen.
Beim Transport im Kofferraum eines Autos sei der gefesselte und geknebelte Aspirant an seinem Erbrochenen erstickt. Der Suizid mittels Handgranate sei zur Beseitigung allfälliger Indizien inszeniert worden, die ein Nachvollziehen der tatsächlichen Todesumstände hätten ermöglichen können. Im Unterschied zu den damaligen Zeitungsartikeln wird der Name Flükiger im Brief korrekt geschrieben.
Der Brief wirft Fragen auf:
Gemäss «Spectator», einem dem Autor bekannten Jurassier, existiert ein Protokoll der Sitzung von Grandfontaine, das die Anwesenden nennt. Ein Teilnehmer sei erst im späteren Verlauf des Abends zur Gruppe gestossen und hätte einen aus frischer Transaktion herrührenden Geldbetrag mitgebracht. Mehr soll das Protokoll dazu nicht sagen.
Ein weiteres mögliches Szenario, für das allerdings keinerlei Belege existieren: Flükiger stösst während seines Postenlaufs versehentlich auf diese Transaktion und wird mit einer fremden Waffe beseitigt. Die Leiche wird weggebracht, damit keine Aufmerksamkeit auf die Versammlung von Grandfontaine gelenkt wird. Mit einer gestohlenen Handgranate wird das Verbrechen als Selbsttötung getarnt. Die Pistole wird behalten: Die Waffe ist der Polizei nicht bekannt.
Was hat die Militärjustiz unternommen, in deren Zuständigkeit die Ermordung eines sich im Dienst befindenden Militärangehörigen fällt? Und was hat die Bundespolizei unternommen, in deren Zuständigkeit ein Sprengstoffdelikt fällt? Hatten die Beamten in Ajoie die Mittel und Möglichkeiten, die Untersuchung in aller Gründlichkeit durchzuführen und alle daraus resultierenden Schlüsse zu ziehen?
Zum damaligen Zeitpunkt steht die Abstimmung der Kantone und der Schweizer Bevölkerung über die Gründung der Republik und des Kantons Jura an. Die Berner Kantonsregierung hat sich da bereits damit abgefunden, dass sie jenen Teil ihres Kantonsgebiets verlieren wird. Polizei und Justiz zeigen keine sonderliche Dynamik mehr, besonders, wenn ein Fall in Zusammenhang mit der Jurafrage steht. Den Leitfiguren des Verfassungsrats empfiehlt es sich nicht, die Béliers als Angeklagte in einem Verbrechen zu sehen. Bundesrat Kurt Furgler, der in der Jurafrage grosses Engagement gezeigt hat, möchte sein Wirken nicht gefährden. Er lädt den Chefredakteur des «Bundes» vor und bittet ihn, vom Fall Flükiger nicht allzu viel Aufhebens zu machen.
Der Tod von Aspirant Flükiger ist nicht restlos geklärt. Vergessen wir nicht den unbeschreiblichen Schmerz seiner Familie, die sich absolut sicher ist, dass sich der junge Mann nicht das Leben genommen hat.