Vom Rütlischwur bis zum Réduit: Egal, ob es sich um Mythos oder Tatsache handelt – es gibt Dinge, die können schweizerischer nicht sein. Aber nicht alles, was als typisch schweizerisch gilt, ist es auch. Oder jedenfalls nicht von Anfang an. Zehn Beispiele – vom Apfelschuss bis zum Zweikammersystem:
Was? Ausgerechnet bei Tells Meisterstück soll es sich um schnöde Importware handeln? Leider stammt die schöne Legende, die zum Kanon der Schweizer Gründungsmythen gehört, ursprünglich aus Skandinavien.
Jedenfalls ist die Sage vom dänischen Helden Toko, der ebenfalls einen Apfel vom Kopf seines Kindes schiessen muss, älter als unser Tellsches Schützenstück. Tell und damit sein Apfelschuss tauchen hierzulande erst im Weissen Buch von Sarnen auf, das um 1472 niedergeschrieben wurde. Dagegen beschreibt der dänische Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus das Geschehen bereits in seinem um 1200 verfassten Werk Gesta Danorum («Die Taten der Dänen»).
In dieser nach derzeitigem Wissensstand ältesten Version der Apfelschuss-Erzählung heisst der Tyrann nicht Gessler, sondern Harald Blauzahn. Nach diesem dänischen König aus dem 10. Jahrhundert, der tatsächlich existiert hat, ist übrigens das Funkverfahren Bluetooth benannt.
Gleich geht's weiter mit den Schweizer Dingen, die gar nicht aus der Schweiz kommen, vorher ein kurzer Hinweis:
Und nun zurück zur Story ...
Man liebt sie oder hasst sie – aber etwas tut man nicht: Man zweifelt nicht am zutiefst schweizerischen Charakter der Chalets. Diese Häuschen mit der aus Holz gefertigten Fassade – manche sind freilich auch mehrstöckige Riesenkästen – gelten als traditioneller Ausdruck schweizerischer Architektur, zumal im Alpenraum.
Zu Unrecht, wie Daniel Stockhammer etwa vor einem Jahr herausfand. In seiner Dissertation, die im Magazin Horizonte des Schweizerischen Nationalfonds und der Akademien der Wissenschaften erschien, räumte der ETH-Doktorand mit der Vorstellung auf, das Chalet sei ein ursprünglich schweizerischer Baustil. Vielmehr sei das Chalet «auf dem Reissbrett ausländischer Architekten» entstanden. Der «Schweizerstil» habe im Ausland schon geblüht, als man in der Schweiz noch nichts davon wusste.
Erst mit dem zunehmenden Tourismus gelangte das Chalet in die Schweiz: Nun stellten auch einheimische Chaletfabriken im halbindustriellen Verfahren «typische» Holzhäuschen her – allerdings oft nach ausländischen Vorlagen.
Diese Pflanze ist so schweizerisch, Wilhelm Tell muss seine Fenster damit geschmückt haben. Und zum Chalet gehören Geranien wie Idefix zu Obelix. Doch die schweizerische Nationalblume ist wie so manches erst relativ spät hierher gekommen: Sie ist eine Afrikanerin.
Genauer gesagt: eine Südafrikanerin. Das Land am Kap kennt mehr als 250 wilde Arten der Pelargonie, wie die beliebte Balkon- und Beetpflanze botanisch korrekt heisst. Ein in holländischen Diensten reisender deutscher Schiffsarzt liess 1672 einige Pflanzen in die Niederlande verschiffen, wo sie im berühmten Hortus botanicus der Universität Leiden weitergezüchtet wurden. In der Schweiz, wo sich der Schweizerische Pelargonien-Verein um das Gedeihen der Pflanze kümmert, wurde die Geranie erst etwa ab 1900 populär.
In der Populärkultur ist dieser Irrtum populär: Die Kuckucksuhr kommt aus der Schweiz. Von Asterix bis Astrid Lindgren schreibt man diese rurale Behäbigkeit verströmenden Zeitmesser der Schweiz zu – schliesslich passen Kuckucksuhren perfekt zu Chalets und Geranien. Die berühmteste Zuschreibung ist allerdings recht wenig schmeichelhaft. Sie stammt von der Filmfigur Harry Lime (gespielt von Orson Welles) im Klassiker «Der dritte Mann»:
Orson Welles gab später zu, «die Schweizer» hätten ihn «sehr freundlich» darauf hingewiesen, dass sie nie Kuckucksuhren produziert hatten. Tatsächlich kommen die aus dem Schwarzwald, wo sie heute noch traditionell gefertigt werden.
Chalet, Geranien, Kuckucksuhr – das Alphorn fügt sich perfekt in diese Reihe. Aber auch dieses urige Instrument ist keine Schweizer Spezialität, zumindest nicht ursprünglich. Vorläufer des Alphorns – Hirtenhörner in allen möglichen Formen und Längen – gab es in vielen Hirtenkulturen, so in den Pyrenäen, in den Karpaten, in Tibet oder bei den Kirgisen. Aus dem Mittelalter sind lange, gestreckte Blasinstrumente bekannt, die dann später eine gebogene Form erhielten. Viele dieser Hörner dienten gar nicht als Musikinstrumente, sondern wurden eher dazu genutzt, akustische Signale zu übermitteln und das Vieh anzulocken.
Die erste schriftliche Erwähnung eines Alphorns in der heutigen Schweiz datiert aus dem Jahr 1527, als das Kloster von St.Urban in seinem Rechnungsbuch «zwei Batzen an einen Walliser mit Alphorn» verzeichnete. Später, im 19. Jahrhundert, stand das Alphorn hierzulande kurz davor, in Vergessenheit zu geraten. Auf jeden Fall war es zu dieser Zeit noch nicht das sprichwörtliche Schweizer Instrument.
Erst im ausgehenden 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert erlebte das Horn eine Renaissance – deren Motor ausgerechnet städtische, bürgerliche Kreise waren. Damit wurde das Alphorn endgültig zum unersetzlichen Accessoire der bäuerlichen Musikkultur – und der Tourismusindustrie.
Stöck, Wiis, Stich – diese Ausmachregel beim Jassen hängt noch immer in vielen Beizen aus und ziert zahllose Jassteppiche von Düdingen bis St.Margrethen. Das populäre Kartenspiel ist ein derart zentraler Bestandteil der Schweizer Folklore, dass ihm das Fernsehen eine eigene Sendung gewidmet hat. Aber auch wenn das Jassen als helvetisches Nationalspiel gilt, stammt es dennoch ursprünglich nicht aus der Schweiz.
Kartenspiele stammen wie viele andere Spiele aus dem Morgenland. Vor rund 700 Jahren brachten Kreuzritter das Spiel mit Karten aus dem Orient nach Europa, wo man bis dahin nur Brett- und Würfelspiele gekannt hatte. Das Jassen im engeren Sinn kam erst später in die heutige Schweiz. Auch hier waren es Krieger, die es aus der Fremde mitbrachten – Schweizer Söldner hatten es in holländischen Diensten kennengelernt. Die Begriffe «Jass» (Bauer) und «Näll» stammen ursprünglich aus dem Niederländischen. Schon um 1450 stellte man dann in Basel Jasskarten her, damals noch in den Farben «Schellen», «Schilten», «Eicheln» und «Federn».
Fondue ist – spätestens seit den 50er Jahren – eines der Nationalgerichte der Schweiz. Seine Herkunft ist allerdings umstritten: Neben den Westschweizer Alpengebieten sieht sich auch das französische Savoyen als Heimat der heissen Käsespeise. Beim Schokoladenfondue ist es dagegen klar: Es wurde definitiv nicht in der Schweiz erfunden – aber von einem Schweizer.
Der Erfinder hiess Konrad Egli, von Freunden «Konni» genannt. In den 50er Jahren machte er in seinem Restaurant «Chalet Suisse» in New York Fondue in allen Variationen zur Attraktion, und fügte diesen Mitte der 60er schliesslich auch das Schokoladenfondue hinzu. Seine Erfindung war eigentlich eine Promo-Aktion für die Firma Toblerone, die sich mit der Bitte an die Küchenchefs gewandt hatte, eine originelle Süssspeise zu kreieren. Schokoladenfondue wurde in der angelsächsischen Welt ein Riesenerfolg, während es in der Schweiz bis vor nicht allzu langer Zeit nahezu unbekannt blieb.
Unsere Vorfahren im Mittelalter bestiegen keine hohen Berggipfel in den Alpen, sondern mieden sie – sie galten als Sitz von Dämonen. Erst mit der Reformation brach sich ein neuer Blick auf die Bergriesen Bahn: Der Zürcher Konrad Gessner sang 1541 in «De admiratione Montium» das Loblied der Schweizer Bergwelt. Wissenschaftliches Interesse an den Alpen – zum Beispiel in der Kartographie – und das Naturverständnis der Romantik führten manche Gelehrte auf die Gipfel. Alpinismus im sportlich-touristischen Sinne war dies jedoch noch nicht.
Dessen Stunde schlug erst ab 1800. Junge Leute aus wohlhabendem Haus, vornehmlich aus England, reisten zum Abschluss ihrer Ausbildung durch Europa und besuchten dabei auch die Schweizer Berge. Einige wagemutige Pioniere unter ihnen begnügten sich nicht mit dem Panorama und der Bergluft, sondern versuchten, die Berggipfel zu besteigen. 1811 wurde die Jungfrau erstmals bezwungen – der Beginn einer Reihe von Gipfelstürmen, die 1865 mit der fatalen Besteigung des Matterhorns einen ersten Höhepunkt fand.
Zwar waren auch Einheimische an den Besteigungen beteiligt, doch das sogenannte «Goldene Zeitalter des Alpinismus» von 1854 bis 1865 wurde von englischen Bergsteigern wie John Ball, John Tyndall, Leslie Stephen und Edward Whymper dominiert. Schon 1857 hatten die Briten den britischen Alpine Club gegründet; der Schweizer Alpenclub (SAC) folgte erst 1863.
Das deftige Gericht aus den Bergen gilt als typisch und genuin schweizerisch. Ein traditionelles Sennengericht, das sogar auf dem Speiseplan der Armee steht. Aber auch dieser vermeintlich sichere «Schweizer Wert» ist nicht wirklich eine schweizerische Erfindung. Denn die «Magronen» sind eine Verballhornung von «Maccheroni» (Makkaroni), der Bezeichnung für italienische gewölbte Röhrennudeln.
Diese Teigwaren kamen im Gepäck italienischer Migranten in die Schweiz. Vor allem beim Bau des Gotthardtunnels (1872–1882) waren Tunnelarbeiter aus unserem südlichen Nachbarland in grosser Zahl auf den Baustellen beschäftigt. Zu dieser Zeit waren Teigwaren allerdings noch recht teuer – vermutlich wurden Maccheroni erst später zum erschwinglichen Alltagsgericht. Auch die Älplermagronen als Gericht dürften wohl erst etwas später entstanden sein. Kartoffeln, die heute in aller Regel Teil der Älplermagronen-Rezepte sind, kamen erst dazu, als das Gericht im Mittelland Fuss fasste.
Das politische System der Schweiz ist für manche Beobachter so vorbildlich aufgebaut, dass andere Staaten es ihrer Ansicht nach mit Vorteil kopieren sollten. Zentrale Bestandteile davon sind aber selber kopiert – namentlich das Zweikammersystem. Dieser sogenannte Bikameralismus besteht in der Schweiz seit 1848, als sie ein moderner Bundesstaat wurde. Die beiden gleichberechtigten Kammern des Parlaments sind der Nationalrat, dessen Mitgliederzahl seit 1963 auf 200 festgelegt ist, und der Ständerat, in dem jeder Kanton zwei Sitze hat (und Halbkantone einen).
Das System erinnert an den US-Kongress, der ebenfalls aus zwei Kammern besteht, die quasi das Volk und die Bundesstaaten vertreten: das Repräsentantenhaus und der Senat. Das ist kein Zufall: Die Eidgenossenschaft gestaltete ihr Zweikammersystem in enger Anlehnung an das amerikanische Modell. Seine starke föderative Ausrichtung erlaubte es, die im Sonderbundskrieg unterlegenen Konservativen mit dem neuen Bundesstaat zu versöhnen.