Was haben nicht alle gemotzt: England spiele einen unattraktiven Fussball. Die haben ein Kader mit einem Marktwert von über 1,5 Milliarden Euro und bringen offensiv trotzdem weniger zustande als Fussballzwerge wie Georgien oder Albanien. Als Hauptschuldiger wurde von Fans und auch Experten Trainer Gareth Southgate auserkoren. Nach dem 0:0 im letzten Gruppenspiel gegen Slowenien wurde er von einigen Fans gar mit leeren Bechern beworfen und ausgebuht.
Gut zwei Wochen später steht England aber im EM-Final, wo es am Sonntag (21 Uhr) in Berlin auf Spanien trifft. Dem geht ein Steigerungslauf zuvor, der nun gar im Titelgewinn münden könnte.
Schon im ersten Spiel trat England erschreckend harmlos auf. Dank eines Kopfballtors von Jude Bellingham gewannen die Three Lions knapp gegen Serbien, doch war ansonsten weder Kreativität noch Durchschlagskraft erkennbar. Irgendwas schien einfach nicht zusammenzupassen – vor allem in der Offensive um Bellingham, Phil Foden und Harry Kane.
Das änderte sich auch im zweiten Auftritt gegen Dänemark nicht. Zwar ging das Team von Southgate erneut früh in Führung, dieses Mal traf Harry Kane, doch glichen die Dänen durch einen Weitschuss von Morten Hjulmand bald einmal aus. Danach spielte sich die Partie ähnlich ab wie zuvor beim 1:0-Sieg gegen Serbien. Kurz gesagt: Es passierte nichts.
Und so prasselte harsche Kritik auf Southgate und sein Team ein. Trotz Platz 1 in der Gruppe C nach zwei Spieltagen bezeichnete beispielsweise BBC-Experte Gary Lineker die bisherige Leistung als «Scheisse». Das Team wirke «taktisch etwas verloren» und das liege am Trainer, so der Ex-Nationalspieler. «Er muss England dazu bringen, weiter vorne zu spielen, als Einheit. Denn im Moment sind sie keine Einheit.»
Weil sich am Ansatz aber auch beim torlosen Unentschieden gegen Slowenien nichts änderte, schlug die Unzufriedenheit der Fans eben in Wut um, die sich dann an Southgate entlud. Dieser erklärte nach der Partie, dass er die Kritik an ihm verstehe.
Empty cups thrown at Gareth Southgate as he applauds the England supporters. @TheAthleticFC #ThreeLions pic.twitter.com/rvJhL6t5OL
— Dan Sheldon (@Dan_Sheldon_) June 25, 2024
Angesichts der miserablen Statistiken blieb ihm auch nichts anderes übrig: Sowohl in Sachen Schüsse als auch bei den Expected Goals befand sich England nach der Gruppenphase auf einem der hinteren Plätze. Southgate befand jedoch auch, dass die Negativität rund ums Team ein «ungewöhnliches Umfeld» für die Spieler schaffe. Indirekt gab er den Fans also eine Mitschuld für die Krise der Three Lions. Vor der K.o.-Phase waren Team und Anhang nicht auf derselben Wellenlänge.
Wer in der entscheidenden Phase auf ein verwandeltes England gehofft hatte, wurde bitterlich enttäuscht. Der Weltmeister von 1966 verbesserte sich nicht nur nicht, sondern er offenbarte im Achtelfinal gegen die Slowakei gar auch noch defensive Schwächen. Zuvor hatte immerhin die Verteidigung mit nur einem Gegentor überzeugen können. Gegen auf dem Papier unterlegene Slowaken liessen die Engländer jedoch schon in der Startphase eine Menge zu und gerieten dann folgerichtig auch in Rückstand.
Bei der slowakischen Führung blieb es eine lange Zeit. Mit neun Zehen war England schon ausgeschieden, als Jude Bellingham in der 95. Minute tatsächlich noch ein Geniestreich gelang: Per Fallrückzieher schickte er das Spiel in die Verlängerung, wo es dann keine Minute dauerte, bis Harry Kane den 2:1-Siegtreffer erzielte. Überzeugend war aber auch dieser Auftritt nicht – zumal die Slowakei in der Verlängerung beinahe zum Ausgleich kam.
Die Zweifel blieben aber auch nach diesem Sieg. So fragte sich der «Daily Mirror» mit Blick auf den Viertelfinal-Gegner: «Sind wir für diese Schweizer bereit?» Die Antwort der englischen Tageszeitung: «Wahrscheinlich nicht.» Nicht wenige Ex-Profis und Medienvertreter sahen England nach dem vierten mauen Auftritt gegen bis zu dem Zeitpunkt sehr überzeugende Schweizer als Aussenseiter.
Doch in der knappen Woche zwischen dem Sieg gegen die Slowakei und dem Viertelfinal gegen die Nati tat sich einiges im Lager der Engländer. Die Kritik schien die Engländer zusammenwachsen zu lassen, mehrere Leistungsträger stellten sich hinter ihren Trainer. Ausserdem hiess es plötzlich, der zuvor so stur an seinem System festhaltende Gareth Southgate plane eine massive Änderung. Und tatsächlich: Gegen die Schweiz liess der 53-Jährige erstmals seit fast zwei Jahren mit einer Dreierkette in der Defensive spielen.
Der Wechsel zahlte sich aus: Zwar merkte man noch immer hier und da, dass es an Eingespieltheit und Gewöhnung an das neue System fehlte, doch war es ein deutlicher Fortschritt für England. Dass die Three Lions trotzdem so viel Probleme hatten, lag vor allem an einer starken Nati, die in der Schlussphase auch in Führung ging. Doch der auf seiner etwas defensiveren Position auf der rechten Aussenbahn starke Bukayo Saka glich mittels perfekt platziertem Distanzschuss aus.
Im Penaltyschiessen bewiesen die Engländer das stärkere Nervenkostüm und Gareth Southgate ein gutes Händchen. Mit Cole Palmer, Ivan Toney und Trent Alexander-Arnold wurden drei der fünf erfolgreichen Schützen eingewechselt. Auch die Vorbereitung von Goalie Jordan Pickford mit seinem Spickzettel machte sich ausbezahlt.
Und erstmals war auch bei den Fans und den Medien eine Welle der Euphorie erkennbar. Es sei zwar noch immer kein super Auftritt gewesen, teilweise nach wie vor langweilig. Doch werde nun endlich gepresst und zumindest etwas mehr Risiko eingegangen. Die «Sun» schwärmte von der «mit Abstand besten Leistung bisher». Wenn auf dem Fortschritt aus dem Spiel gegen die Schweiz aufgebaut werde, «kann England Europameister werden».
Und das taten die Three Lions. Vor dem EM-Halbfinal konnten sie sich endlich einmal in Ruhe – ohne ständige Kritik von aussen – auf den nächsten Match vorbereiten. Das Resultat: Gegen starke Niederländer zeigte England eine überzeugende Leistung, endlich war auch die offensive Qualität zu sehen. Zwar brauchten sie einen strittigen Penalty, um den frühen Rückstand auszumerzen, doch spielten die Engländer weitere gute Chancen heraus.
Allen voran Phil Foden hatte die Führung zweimal auf dem Fuss: Einmal rettete Denzel Dumfries auf der Linie, einmal der Pfosten. Das Zusammenspiel funktionierte endlich, wie sich auch beim späten Siegtreffer durch Ollie Watkins zeigte. Was die Engländer zusätzlich positiv stimmen darf, sind die Optionen von der Bank. Sowohl Watkins als auch Vorbereiter Cole Palmer wurden eingewechselt. Mit Ivan Toney, Trent Alexander-Arnold und Anthony Gordon stehen weitere Stammspieler aus der Premier League als Joker bereit.
Für sein goldenes Händchen feierten die englischen Medien ihren Nationaltrainer nun. «Wochenlang haben wir Gareth Southgate angeschrien, er solle Auswechslungen vornehmen», schrieb die «Sun», «und dann nahm der englische Trainer den grossartigsten Doppelwechsel in der Geschichte seiner Nationalmannschaft vor.» Restlos überzeugt sind viele trotz dem erneuten Einzug in den EM-Final – 2021 ging dieser gegen Italien im Penaltyschiessen verloren – noch nicht von Gareth Southgate.
Unter anderem, weil Kane bisher in keinem Spiel richtig eingebunden werden konnte. Daran müssen Southgate und sein Trainerstab noch feilen. Gelingt es, auch den Bundesliga-Torschützenkönig besser ins Spiel zu integrieren, ist selbst gegen die bisher brillanten Spanier im Final der Europameisterschaft in Berlin (Sonntag, 21 Uhr) alles möglich.