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Können wir auf die bilateralen Verträge verzichten? Schlechte Idee, warnt Avenir Suisse!
Brauchen wir die bilateralen Verträge überhaupt noch? Die Antwort auf diese Frage ist heute verwirrender denn je. Gemäss SVP sind sie überflüssig geworden. Rudolf Strahm, lange SP-Nationalrat und Preisüberwacher, versichert in seinen viel beachteten Kolumnen, die EU würde auch bei einer Einschränkung der Personenfreizügigkeit die Verträge nicht kündigen. Economiesuisse, der Dachverband der Wirtschaft, scheint verschiedenen Zeitungsberichten zufolge auf Schmusekurs zur SVP einzuschwenken, und der Bundesrat schlägt eine Schutzklausel vor, die notfalls auch ohne Zustimmung der EU eingeführt werden soll.
Avenir Suisse, die Denkfabrik der Wirtschaft, hingegen spricht Klartext. In dem heute vorgestellten Buch «Bilateralismus – was sonst?» zeigt sie auf, dass wir ohne bilaterale Verträge einen massiven Wohlstandsverlust erleiden würden. Sie erklärt auch, warum gerade die Personenfreizügigkeit das zentrale Element dieser Verträge darstellt, und weshalb Alternativen wie ein Verlassen auf die nach wie vor bestehenden Freihandelsverträge oder ein neuer Versuch in Richtung EWR keine valablen Optionen sind.
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«Sicher, die Schweiz bricht auch bei einer Kündigung der bilateralen Verträge nicht zusammen», stellt Avenir Suisse-Direktor Gerhard Schwarz klar. «Aber die Nachteile sind grösser als die Vorteile.» Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen:
Warum die bilateralen Verträge wichtig sind
- Die Schweizer Wirtschaft ist inzwischen eng verzahnt mit der europäischen. Nur Irland und Belgien sind noch stärker intergriert. Von dieser Integration profitieren gleichzeitig die KMU und die Konsumenten. Die KMU, weil sie wegen des Abbaus der Handelshürden keine zusätzlichen Kosten für den Export haben. Die Konsumenten, weil der stärkere Wettbewerb die Preise drückt.
- Die Personenfreizügigkeit spielt dabei eine zentrale Rolle, weil die Wirtschaft auf die Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen ist. Erhält sie diese nicht, dann werden die Arbeitsplätze ausgelagert. Davon würden auch die mittel und schlecht qualifizierten Arbeitnehmer leiden. Gemäss Avenir Suisse schaffen zwei Zuwanderer einen zusätzlichen Arbeitsplatz in der Schweiz.
- Die Sache mit dem stagnierenden Pro-Kopf-Einkommen ist nicht so simpel, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Zwar trifft es zu, dass in der Schweiz das reale Pro-Kopf-Einkommen stagniert. Zwischen 2009 und 2014 betrug es durchschnittlich lediglich 0,2 Prozent. Doch in den umliegenden Ländern war die Entwicklung meist noch schlechter. Das Pro-Kopf-Einkommen hat in der Schweiz mehr zugenommen als im Durchschnitt der Euroländer. Nur in Deutschland war es höher, wobei gerade Deutschland einen grossen Aufholbedarf hat.
- Es gibt allenfalls vereinzelte Fälle von Dumpinglöhnen. Insgesamt lässt sich dieses Phänomen nicht feststellen. Die Erwerbstätigkeit hat insgesamt zugenommen, aber auch die Teilzeitarbeit.
Mit einer schlechten Wirtschaftspolitik die Zuwanderung begrenzen?
Was heisst dies nun für die aktuelle politische Diskussion? Avenir Suisse hat bereits im Frühjahr 2014 vorgeschlagen, die Masseneinwanderungs-Initiative mit einer Globallösung umzusetzen. Das bedeutet, dass der Bundesrat ein Einwanderungsziel für einen längeren Zeitraum definiert (fünf bis zehn Jahre), aber keine Jahreskontingente festlegt. «Eine Schutzklausel lässt sich damit kombinieren», sagt Schwarz, «aber nur, wenn die Zahlen nicht zu tief angesetzt werden. Sonst kommen sie de facto einer Kontingent-Regelung gleich.»
Eine Kontingent-Regelung würde zudem einen beträchtlichen bürokratischen Mehraufwand zur Folge haben. Das kann kaum im Interesse der Wirtschaft liegen. Eine radikale Massnahme, die Zuwanderung in den Griff zu bekommen, bestünde darin, eine lausige Wirtschaftspolitik einzuführen, die den Standort Schweiz weniger attraktiv erscheinen lassen würde. «Aber das kann ja wohl niemand ernsthaft fordern», erklärt Schwarz.