Der Glaube an Wunder ist noch tief in der katholischen Kirche verankert. Dieser Anachronismus gehört auch in der Neuzeit zu einem zentralen Pfeiler ihrer Lehre und mancher Praktiken.
Die Heiligsprechung des verstorbenen Teenagers Carlo Acutis am 7. September durch Papst Leo XIV. im Vatikan erinnert uns daran, dass der reine katholische Glaube nach wie vor von einem kindlichen Geist beseelt ist.
Die Zeremonie auf dem Petersplatz, dem 70‘000 Gläubige beiwohnten, ist in mehrfacher Hinsicht ein besonderes Ereignis. Noch nie in der neueren Zeit ist ein Jugendlicher heiliggesprochen worden. Noch nie kam ein Gläubiger so rasch nach seinem Tod zu dieser Ehre. Im Durchschnitt dauerte der Prozess mehr als 200 Jahre. Noch nie gab es in der jüngeren Zeit einen solchen Personenkult um eine so junge Person.
Wie ist das möglich? Was hat die Kurie geritten, einen Teenager zum Heiligen zu erküren? War es ein Akt der Verzweiflung, weil viele junge Leute keinen Bock mehr auf die Kirche haben? Suchte sie nach all den Missbrauchsskandalen positive Schlagzeilen, einen Imageboost?
Wer war dieser Teenager, den die alten Herren im Vatikan im Eiltempo in den exklusiven Stand der Heiligen hievten?
Der Italiener Carlo Acutis wurde 1991 geboren und soll sich schon mit elf Jahren intensiv mit dem Glauben auseinandergesetzt haben. Er entwickelte eine besondere Frömmigkeit und wollte sein Leben Gott, Jesus und der Mission widmen.
Er nutzte bald das Internet, um junge Menschen für den Glauben zu begeistern. Sein Erfolg brachte ihm den Titel eines Cyber-Apostels ein. Dabei faszinierte ihn vor allem das Wunder der Eucharistie - die Verwandlung der Hostie in das Blut und das Fleisch von Jesus.
Mit 15 Jahren wurde beim religiösen Influencer der ersten Stunde Leukämie diagnostiziert, der fromme Jugendliche starb 2006 nach kurzer Zeit. Ein tragisches Schicksal, das den Heldenstatus und Personenkult verstärkte.
Papst Franziskus war vom Wirken des jungen Italieners begeistert. Er sprach ihn 2020 selig. In der Enzyklika «Christus vivit» bezeichnet er ihn als «Modell für die Jugend im digitalen Zeitalter».
Voraussetzung die Seligsprechung ist ein vom Vatikan anerkanntes Wunder, das die Kandidaten oder Kandidatinnen bewirkt haben sollen. Fündig wurde die zuständige Kommission in Brasilien.
2010 soll ein Knabe, der an einer erkrankten Bauchspeicheldrüse litt, durch die Berührung einer Reliquie von Carlo Acutis geheilt worden sein. Ein angebliches Wunder, das medizinisch kaum nachweisbar ist.
Für die Heiligsprechung braucht es ein zweites Wunder, das Papst Franziskus bei Carlo Acutis 2022 anerkannte. Eine Schwerverletzte soll geheilt worden sein, nachdem ihre Mutter am Grab des jungen Gläubigen für sie gebetet hatte. Heute ist die Leiche des Teenagers ist in einem gläsernen Sarg in Assisi aufgebahrt, gekleidet in Nike-Sneakers, Jeans und ein Shirt.
Ob Carlos Acutis so heilig war, wie ihn seine glühenden Anhänger und der Vatikan darstellen, ist umstritten. Die Tagesschau.de schreibt: «Einigen geht es einfach zu schnell. Andere sagen, er sei gar nicht so gläubig gewesen. Und immer wieder hört man: Es gehe der katholischen Kirche vor allem um eine Identifikationsfigur für die junge Generation.»
Die Verehrung von Carlo Acutis durch junge Gläubige wird in mehreren Videos thematisiert, die sich mit dem Leben des Heiligen befassen. Eine junge Nonne sagte in einem Beitrag mit glänzenden Augen: «Ich habe mich sofort in Carlo verliebt.» Eine 18-jährige Katholikin schwärmte: «Carlo ist ein sehr guter Freund von mir im Himmel.»
Die Übersetzerin eines Buches über Carlo Acutis zählt in einem Video die acht Empfehlungen des verstorbenen Cyber-Apostels an Kinder auf.
1. Du musst heilig werden wollen.
2. Gehe jeden Tag zur heiligen Messe und empfange die heilige Kommunion.
3. Denke daran, jeden Tag den Rosenkranz zu beten.
4. Lese jeden Tag aus der Heiligen Schrift.
5. Nimm dir Zeit für die eucharistische Anbetung.
6. Gehe jede Woche zur heiligen Beichte.
7. Erbringe kleine Opfer und mache gute Taten.
8. Bitte deinen Schutzengel, dir immer zu helfen.
Da reibt man sich verwundert die Augen. Diese Empfehlungen könnten die alten Herren im Vatikan auf dem Sterbebett von sich gegeben haben. Sie sind so bieder und verstaubt, wie grosse Teile der katholischen Kirche.
Den Rosenkranz zu beten, in dem die Mutter Gottes angerufen wird, wirkt für die grosse Mehrheit der angesprochenen Jugendlichen wohl abschreckend.
Wie weltfremd muss man sein, von Teenagern zu verlangen, täglich in die Messe zu gehen? Woher sollen sie die Zeit nehmen? Die religiöse Verblendung des Teenagers verrät auch sein Anspruch an junge Gläubige, heilig werden zu wollen.
Ironie des Schicksals ist die letzte Forderung mit dem Schutzengel: Diese glänzten wohl durch Abwesenheit, als Carlo Acutis an seiner tödlichen Leukämie erkrankte. Auch sein verehrter Jesus zeigte offenbar kein Erbarmen.
Trotzdem glauben seine Fans immer noch an die physische Präsenz von Jesus. Eine Gläubige sagt in einem Video: «Gott ist immer bei uns, nicht nur spirituell. Er ist da: physisch, konkret, real präsent.»
Es wäre wohl an der Zeit, dass die Geistlichen im Vatikan ihren Glauben einem Faktencheck unterziehen würden. Damit würden sie wohl mehr junge Leute anziehen als mit einer Heiligsprechung von Carlo Acutis.