Glaubensgemeinschaften prägen unser Bewusstsein auch in Zeiten der Säkularisierung stärker als wir ahnen. Bis vor ein paar Jahrzehnten war der überwiegende Teil der Menschheit in irgend einer Weise gläubig. In vielen Weltgegenden ist dies auch heute noch so. Glauben und Religion sind seit Jahrhunderten zentraler Teil unserer geistigen DNA. Sie haben uns mehr geprägt als Politik und Kultur.
Doch weshalb sind Religionen entstanden? Entwickelten sie sich natürlich aus dem jeweiligen Zeitgeist heraus? Haben Götter sie inszeniert? Sind sie quasi vom Himmel gefallen? Haben Visionäre oder Propheten religiöse Ideen und Konzepte aufgrund ihrer persönlichen Neigung oder Bedürfnisse entwickelt? Wir wissen es nicht.
Sicher ist aber: Am Anfang war meist nicht das Wort, wie es in der Bibel steht, sondern stets das Bedürfnis eines einzelnen Menschen. Genauer: Eines Mannes. (Frauen hatten früher selten die gesellschaftliche oder politische Autorität, um eine neue Glaubensgemeinschaft, Religion oder Sekte zu gründen.)
Religionen entstanden also primär im Hirn eines Mannes. Und von solchen Männern gab und gibt es viele. Weltweit haben im Lauf der Geschichte Zehntausende eine Glaubensgemeinschaft oder Sekte gegründet. Die meisten waren oder sind von einem Sendungsbewusstsein bestimmt. Viele sind extravertiert und machtbesessen.
In keinem anderen Lebensbereich kann die Machtfülle grösser sein. Religionsführer sind meist überzeugt, im Namen und Auftrag eines Gottes zu handeln. Sie sehen sich als Heilsbringer und zentrale Figur in der Geschichte der Menschheit.
Vor allem aber haben sie die höchstmögliche Form der Macht über ihre Anhänger. Diese huldigen ihren Führern und bringen ihnen viel Verehrung entgegen.
Erfolgreiche Religionsgründer erhalten oft auch weltliche Macht. Der Obolus der Gläubigen führt oft zu grossem Reichtum. Und Geld hat immer schon Macht bedeutet. Entsteht aus einer Glaubensgemeinschaft eine Weltreligion, wächst der politische Einfluss rasch.
Der Islam prägt in vielen Ländern auch das politische und gesellschaftliche Leben. Der Machtwille der Religionsführer zeigt sich vor allem in Ländern, die sich zum Kalifat oder Gottesstaat entwickeln. Auch im Hinduismus lassen sich Machtstrukturen ausmachen, die über das Religiöse hinausgehen. Der indische Premierminister Narendra Damodardas Modi ist ein hindu-nationalistischer Politiker der Bharatiya Janata Party (BJP).
In unseren Breitengraden hatten früher auch die christlichen Geistlichen eine überragende Stellung im politischen und gesellschaftlichen Leben. Selbst Fürsten, Könige und Kaiser richteten ihre Politik auf die religiösen Bedürfnisse der Kirchenführer aus. Und die Gerichte urteilten nach den oft problematischen moralischen und ethischen Grundsätzen der Geistlichen.
Die meisten erfolgreichen Religionsgründer hätten wohl Freude, wenn sie die heutige Machtfülle ihrer Verwalter erleben könnten. Zu ihnen gehört vermutlich auch der einstige Kriegsheld Mohammed, der seine Religion dank weltlicher Macht ausweiten konnte.
Bei Jesus ist es etwas komplizierter, wenn wir den Schilderungen in der Bibel Glauben schenken. Als Wanderprediger lebte er sehr bescheiden und verlangte auch von seinen Jüngern ein Leben in Askese. Was die Hüter seines religiösen Werks aus seiner Lehre gemacht haben, dürfte ihm deshalb nicht gefallen. Der Pomp im Vatikan ist kaum nach seinem Geschmack. Vielleicht ist seine Heilslehre aber wie bei allen anderen Religionsgründern auch nur in seinem Hirn entstanden.