Dabei liegt das Schicksal der fiktiven Figuren längst in den Händen von milliardenschweren Konzernen, Marketingstrategen und Profiautoren, die in deren Auftrag handeln. Es geht immer weniger um künstlerische Visionen als vielmehr um Quoten, Klicks und Marktanteile. Etwas zynisch könnte man sagen, dass man literarische und cineastische Kunstwerke dann auch gleich künstlicher Intelligenz wie ChatGPT überlassen könnte.
Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Ja, und dieser Ausweg heisst Computerspiele. Hier hat sich die Situation in den letzten Jahren in eine ganz andere Richtung entwickelt. Games zu Büchern und Filmen waren lange Zeit kommerzielle Lizenzprodukte, von denen man bestenfalls erwarten konnte, die Vorlage nicht allzu sehr zu beschädigen und die Fans wenigstens für eine gewisse Zeit glücklich zu machen. Die Harry-Potter-Spiele von Electronic Arts gehörten zur besseren Sorte dieses Genres und hielten sich weitgehend an die zugrundeliegenden Geschichten. Mehr kreative Freiheit boten die Lego-Versionen. «Lego Star Wars: Die Skywalker Saga» vereinte ganze neun Filme und gab einem die Möglichkeit, sich mit lustvoller Anarchie über den Sternenkrieg-Kanon hinwegzusetzen.
Mittlerweile ist die Technik so weit, offene Spielwelten erschaffen zu können, in denen man sich frei bewegen und seine eigene Fantasie spielen lassen darf – im wahrsten Sinne des Wortes. Computerspiele bieten die Chance, die Geschichten all jenen zurückzugeben, für die sie einmal erdacht wurden: uns, dem Publikum vor den Buchseiten, Kinoleinwänden und Bildschirmen. Das war ja auch immer das grosse Versprechen der Videospiele: dass sie einen zum Helden oder zur Heldin der eigenen Abenteuer machen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn man sich als Henriette Müller in Hogwarts einschreiben und selbst gegen Drachen und anderen fiese Fabelwesen kämpfen könnte?
Genau das soll «Hogwarts Legacy» nun möglich machen. Das Game, das am 10. Februar für PlayStation 5, Xbox Series X|S und PC, am 4. April für Xbox One und PlayStation 4 und am 25. Juli für Nintendo Switch erscheint, spielt im 19. Jahrhundert und ist als interaktives Prequel zu den Harry-Potter-Büchern und -Filmen konzipiert. Damit können sich endlich auch alle, denen Harry, Hermine und Ron schon länger auf die Nerven gehen, selbst in die Welt der Magier und Zauberlehrlinge hineinträumen. Sich mittels des Charakter-Editors ein eigenes Alter Ego erschaffen. Sich den Häusern Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw oder Slytherin anschliessen und allen zeigen, dass sie besser den Zauberstab schwingen als alle anderen.
«Hogwarts Legacy» entführt den Spieler in Englands wilden Norden, nach Schottland. Man wird durch das beschauliche Örtchen Hogsmeade flanieren und in die legendäre Schänke «Eberkopf» einkehren dürfen. Man kann durch den verbotenen Wald streifen, Zutaten für Zaubertränke sammeln, Zentauren begegnen und die Wunder der örtlichen Flora und Fauna entdecken. Und dann Hogwarts selbst, dieses fantastische Schloss, um das man erst mal mit dem Besen ein paar Runden dreht, um danach die weitläufigen Flure und Hallen zu erkunden und die Bibliothek zu besuchen. Der «Raum der Wünsche» lässt sich, wie es der Name verspricht, ganz nach den eigenen Vorstellungen gestalten. Und im Vivarium darf man mit magischen Tierwesen wie Graphorn, Kniesel und Mondkalb Kontakt aufnehmen. All das sieht fantastisch aus und dürfte sogar Menschen, Verzeihung, Muggel ansprechen, denen sich das Harry-Potter-Universum bislang noch nicht erschlossen hat.
Für alle, denen dabei die Action fehlt, hat das beauftragte US-Studio Avalanche Software dem Spiel ein Kampfsystem verpasst, das sich ein bisschen wie ein Shooter anfühlt. Der Zauberlehrling beziehungsweise die Hexe in Ausbildung schleudern per Zauberstab gleissende Blitze durch die Luft, durchbrechen magische Schutzschilde oder schleichen sich wie in einem Stealth-Game durch die gegnerischen Reihen. Die grosse Frage lautet: Wie gut werden die offene Spielwelt und das Gameplay miteinander verzahnt? Schaffen es die Entwickler, das Gefühl einer lebendigen Umgebung, in der man sich frei bewegen kann, mit den narrativen Elementen auszubalancieren, die es auch geben muss, um aus der Spielwelt ein Spiel zu machen. An dieser Herausforderung ist bekanntlich schon so manches Open-Word-Game gescheitert.
Und dann sind da noch die Erwartungen der Fan-Community. Die meckerte bereits, dass man keine Quidditch-Turniere austragen darf und auch der Zauberunterricht offenbar keine Rolle spielen wird. Und natürlich hoffen alle, dass auch das nach ein paar unbedachten Bemerkungen lädierte Image der Harry-Potter-Erfinderin J. K. Rowling keine Schatten auf das digitale Hogwarts werfen wird. Aus alldem erklärt sich auch die Vorsicht von Warner, die Details über das Spiel nur in homöopathischen Dosen herausgaben. Als auserwählter Journalist, der das Spiel bereits anspielen durfte, bekam man gleich eine lange Liste mit Anweisungen mit auf den Weg, welche Details man bitte aus der Berichterstattung aussparen solle. Selbstverständlich nur, damit nicht gespoilert wird.
Bei aller Vorfreude kocht die sensible Fanseele heutzutage eben immens schnell hoch. Jedenfalls dann, wenn es um so lebenswichtige Themen geht wie Herr der Ringe, Star Wars und Harry Potter. Allzu schnell entpuppen sich die treuen Anhänger dann als, um im Hogwarts-Universum zu bleiben, Dementoren, die einem mit einem Kuss die Seele aus dem Leib saugen können.