Willkommen zurück in den Neunzigerjahren: Beim Genfer Grenzübergang Bardonnex stauten sich am Montag die Autos. Rund 45 Minuten betrug die Wartezeit. Französische Grenzschützer überprüften Fahrzeug um Fahrzeug.
Auch die Schweizer Zöllner haben reagiert und ihre Kontrolltätigkeit kurzfristig erhöht. Doch ihre Arbeit bleibt ein Tropfen auf den heissen Stein, denn die Schweiz ist ein offenes Land und ihre Grenze gleicht einem Schweizer Käse: 750 000 Personen und 350 000 Fahrzeuge passieren täglich die rund 1900 Kilometer lange Landesgrenze. Von den knapp 800 Grenzübergängen sind nur 14 durchgehend besetzt, die restlichen werden mobil überwacht. Die 2000 Grenzwächter kontrollieren heute nicht einmal 1 Prozent aller Grenzgänger.
Es sind diese Fakten, welche die Forderung nach systematischen Personenkontrollen, wie sie Verteidigungsminister Ueli Maurer jüngst geäussert hat, als Wunschdenken entlarven.
«Wir haben keine Zeit für Nice-to-have-Dienstleistungen und müssen auf weniger prioritäre Aufgaben verzichten», sagte der Chef des Grenzwachtkorps, Jürg Noth, gestern gegenüber SRF. Das Grenzwachtkorps konzentriere sich momentan auf seine sicherheitspolitischen Aufgaben und auf Einsätze wegen der zunehmenden Migrationsströme. Es gebe beispielsweise verschiedene Fahndungsersuchen. Die Grenzwächter folgten dabei auch ihrem Bauchgefühl und ermittelten dort, wo sie das Gefühl hätten, erfolgreich zu sein.
Noth wiederholte seine Forderung an die Politik nach mehr Personal. «Wenn es finanzierbar ist, brauchen wir 200 bis 300 zusätzliche Arbeitskräfte.» In Franken und Rappen ist der Preis systematischer Personenkontrollen nicht zu beziffern.
Klar ist aber: Würde jeder Grenzgänger überprüft, wären kilometerlange Staus und massive Einschränkungen für den Warenverkehr die Folge. Es käme zu einem Wirtschaftschaos.
Das Schengen-Abkommen, das mittlerweile 26 europäische Staaten – unter ihnen die Schweiz – unterzeichnet haben, sieht grundsätzlich keine Kontrollen an den Binnengrenzen vor. Im Gegenzug sollen die Aussengrenzen stärker bewacht werden.
Dass sich nun die Autos in Bardonnex stauen, ist die Folge einer Klausel, auf die sich Frankreich beruft: Wenn «eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit» für ein Land besteht, dürfen die Staaten während einer beschränkten Zeit Grenzkontrollen durchführen. Die Schweiz hat bislang auf diesen Schritt verzichtet.
Erst im Juni dieses Jahres feierte Europa das dreissigjährige Bestehen der Vereinbarung, das damals die Benelux-Länder, Frankreich und Deutschland untereinander abschlossen – und das gemeinhin als eine der grössten und populärsten Errungenschaften des Nachkriegseuropas gilt. «Schengen ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem friedlichen Europa», sagte damals Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments.
Angesichts der zunehmenden Migrationsbewegungen und der Terroranschläge von Paris gerät das Abkommen nun europaweit unter stetig grösseren Druck.
Als gescheitert darf man es aber nicht betrachten, sieht es in seinem Vertragstext schliesslich genau jene Massnahmen vor, die Frankreich – und aufgrund der Migrationsbewegungen auch andere Staaten – beschlossen haben. Europäische Spitzenpolitiker, allen voran EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, verteidigen das Abkommen denn auch wortreich.
Dennoch gewinnt die Schengen-Problematik auch in der Schweiz wieder an Brisanz. Bereits seit Jahren verlangt die SVP die Kündigung des Vertrags, gestern wiederholte die Wahlsieger-Partei die Forderung: «Mir wäre es lieber, wenn es nicht die Anschläge von Paris gebraucht hätte, um endgültig zu sehen, dass Schengen nicht funktioniert. Das Abkommen muss gekündigt werden, damit wir unsere Grenzen wieder selbst kontrollieren könnten», sagt SVP-Aussenpolitiker Roland Büchel.
Dabei gehe es nicht um die systematische Kontrolle jedes Autofahrers, sondern um «Gesichtskontrolle». Dass solche Massnahmen der Schweiz wirtschaftliche Nachteile bringen würden, glaubt er nicht. «Im Land Ordnung zu haben, ist wichtiger als ein paar wartende Automobilisten», so Büchel.
Mit Grenzkontrollen alleine ist die Sicherheit der Bevölkerung ohnehin nicht zu bewerkstelligen, wichtig sind neben polizeilichen auch nachrichtendienstliche Tätigkeiten.
Welche konkreten Massnahmen er aufgrund der Pariser Terroranschläge getroffen hat, will der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) naturgemäss nicht verraten. Auch auf die Frage, ob er aufgrund der jüngsten Entwicklungen zusätzliche finanzielle oder logistische Mittel benötigt und ob die Teilnahme der Schweiz am Schengener Abkommen die hiesige Sicherheitslage beeinflusst, will sich der NDB nicht äussern.
Gesprächiger zeigt sich der Nachrichtendienst zur Bedrohungslage der Schweiz – und verbindet diese mit einem Werbespot für das neue Nachrichtendienstgesetz: «Terroranschläge stellen die Terrorismusprävention vor eine immense Herausforderung. Verbesserte und erweiterte Mittel erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass solche Anschläge verhindert werden können, sie bieten allerdings keine hundertprozentige Garantie.»