Im Nu ging es als «The Great Cheese Robbery» durch die Medienlandschaft – beziehungsweise als «Grate [sic!] Cheese Robbery» (to grate = raffeln / reiben. Die Briten lieben nun mal ihre Wortspiele): Der erlesene Käsehändler Neal's Yard Dairy wurde Opfer von Betrügern, die in einem ausgeklügelten Scam preisgekrönten Cheddar im Wert von mehr als 340'000 Franken – geschlagene 22 Tonnen – erbeuteten.
Vergangenen Juli erhielt Neal's Yard ein E-Mail, das scheinbar von einem bekannten und seriösen Händler aus der europäischen Käseindustrie stammte, der angeblich eine grosse französische Supermarktkette belieferte. Die Betrüger verbrachten die nächsten Monate damit, eine vertrauenswürdige Geschäftsbeziehung zu Sarah Stewart, der Geschäftsführerin und Miteigentümerin von Neal's Yard, aufzubauen, und bis Ende September hatten sie 950 Käselaibe mit einem Gewicht von etwa 22 Tonnen bestellt und erhalten. Als Stewart innerhalb der vereinbarten Woche keine Zahlung erhalten hatte, ahnte sie Böses, und als sie sich mit dem rechtmässigen Vertrieb in Verbindung setzte, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
Wie nicht anders zu erwarten, wirft dieser Mega-Raub einige Fragen auf – die wohl interessanteste davon ist: Wie um alles in der Welt wollen die Kriminellen so viel Käse loswerden? Sie können ja nicht alles aufessen.
Food-Raube sind gar nicht so ungewöhnlich, wie man vielleicht denkt. Viele hochwertige Lebensmittel sind relativ leicht verkäuflich, wie etwa die 2700 Tonnen Ahornsirup aus dem kanadischen Strategic Maple Syrup Reserve (oh ja – Kanada besitzt einen «strategischen Ahornsirup-Notvorrat») im Wert von rund 17 Millionen Schweizer Franken, die 2012 gestohlen wurden, oder die 300'000 Packungen Instant-Ramen, die 2018 in den USA gestohlen wurden.
Beim aktuellen Fall gestaltet sich das Problem etwas komplexer: Würde es sich um stinknormalen Standard-Cheddar handeln, wäre der Weiterverkauf einfach. Aber die nun gestohlenen Käsesorten gehören zu den erlesensten Cheddars überhaupt. In Italien wird jedes Jahr Parmesan im Wert von etwa 3 Millionen Franken gestohlen – was weniger erstaunt, weil dieser sich relativ leicht verkaufen lässt, weil er weniger auffällig ist als der von Neal's Yard gestohlene Käse.
watson befragte Michael William Jones, Käseexperte und Gründer des British Cheese Deli of Switzerland: «Neals Yard Dairy verkauft qualitativ hochwertigsten britischen Rohmilchkäse in ihren eigenen Geschäften und in Gourmet-Käseläden und Restaurants in ganz Grossbritannien. Sie exportieren auch weltweit, unter anderem in die Schweiz. Ihr Käse ist aber in keinem Supermarkt erhältlich, nicht einmal im Vereinigten Königreich.»
«Bei den gestohlenen Käselaiben handelt es sich um einen ganz bestimmten ‹Stil›, nämlich um Rohmilch-Cheddar in Tuchbindung. Jeder dieser Käse hat ein in das Tuch eingenähtes Pappschild. Jeder Käseverkäufer im Vereinigten Königreich würde sie erkennen – oder zumindest wissen, dass es sich hierbei um etwas Besonderes handelt.»
Demnach bliebe also Europa als Destination des Raubguts?
Jones: «Seit dem Brexit ist es unmöglich, Käse zu exportieren, ohne dass jede einzelne Charge veterinärbiologisch untersucht wird. Wenn der Käse also das Land verlassen hat, wurde er hinausgeschmuggelt – was nicht so einfach zu bewerkstelligen ist. Die Diebe müssten wohl jeweils eine oder zwei Paletten in einem Kühllastwagen verstecken, der legal Lebensmittel ausführt. Alle Unternehmen, die das tun, sind streng reguliert. Mit wem könnten sie also zusammenarbeiten, um das zu tun? Und 22 Tonnen – ich schätze, das sind etwa 60–70 Paletten!»
«Aber selbst wenn es ihnen gelänge, nach Europa zu kommen, bliebe trotzdem das Problem, dass diese Käsesorten extrem rar sind und daher einen hohen Wiedererkennungswert haben und zudem nur in sehr spezialisierten Käseläden in kleinen Mengen verkauft werden. Jene Käseläden werden nun alle Ausschau halten nach seltsamen Angeboten grosser Mengen. Ich bezweifle, dass Neal's Yard jemals derart viel auf ein Mal nach Europa exportiert hat.»
So schwierig der internationale Schmuggel auch sein mag, bleibt es noch unwahrscheinlicher, dass der gestohlene Käse im Vereinigten Königreich verkauft wird:
«Weniger als ein Prozent des im Vereinigten Königreich verkauften Cheddarkäses ist von der Art, die gestohlen wurde – Rohmilchkäse direkt vom Bauernhof, mit Stoff umwickelt. Die grosse Mehrheit ist ‹Block›-Cheddar – ohne natürliche Rinde, industriell hergestellt und vakuumverpackt. 99 Prozent der Käsehändler haben noch nie Cheddar der Sorte Neal's Yard verkauft – und wollen es auch nicht, denn er ist teuer und seine Pflege erfordert einiges an Können. Ausserdem wird auch hier wieder jeder Einzelhändler nach Angeboten für diese seltene Käsesorte Ausschau halten.»
Es ist nicht nur die relative Abgeschlossenheit der Käsewelt (man kennt sich), die es den Dieben fast unmöglich machen wird, ihre Beute zu verkaufen. Da ist auch das Problem der Lagerung und der Lebensmittelsicherheit. Bei Rohmilcherzeugnissen muss die Kühlkette gesichert sein. Niemand wird das Risiko eingehen, ein Rohmilchprodukt zu kaufen, das von einem dubiosen Anbieter kommt. Ausserdem erfordern solch feine Käsesorten während der Lagerung ständige Aufmerksamkeit. Man kann sie nicht einfach in eine Abstellkammer stellen, denn sie brauchen Feuchtigkeit und müssen gewendet werden. Zudem: Die Uhr tickt – Käse ist schliesslich ein verderbliches Lebensmittel. Die Kriminellen werden also schnell handeln wollen.
Womit sich alle Kommentatoren in den Bereich der (fundierten) Spekulation begeben.
«Es ist möglich, dass die Käselaibe auf Bestellung gestohlen wurden», so John Farrand, Geschäftsführer der jährlichen World Cheese Awards, gegenüber dem Independent. «Wenn das so ist, müssten sie auf einen Absatzmarkt verschoben werden, der zwei- oder dreifach entkoppelt von hier ist. Russland oder der Nahe Osten etwa.»
Es besteht die Befürchtung, dass der Käse weiterverarbeitet und in grossen Mengen an die Lebensmittelindustrie zurückverkauft wird, um in Produkten wie Käse-Flutes verwendet zu werden. Dies erscheint jedoch unwahrscheinlich, da die Betrüger offenbar über Fachwissen verfügen, das es ihnen ermöglichte, überhaupt erst eine professionelle Beziehung zu den Nischenspezialisten von Neal's Yard aufzubauen.
Michael William Jones: «Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr vermute ich, dass russische Käsegeschäfte zu Weihnachten einige exzellente Käse anbieten werden» (lacht).