Leben
Sex

Wo liegt die Vagina? Eine Expertin erklärt's

Warum wissen Frauen nicht, wo ihre Vagina liegt? Wir haben eine Gynäkologin gefragt

10.10.2018, 20:1911.10.2018, 07:48
Gunda Windmüller / watson.de
Mehr «Leben»

Scham ist ein sehr hartnäckiges Gefühl. Es überlebt Aufklärung, es überlebt Tabubrüche, und es ist selbst dann noch quicklebendig, wenn wir glauben, es wäre längst mausetot.

Wo Scham zuverlässig auftaucht: wenn es um die weiblichen Geschlechtsteile geht. Um Vulva, um Vagina, und um Periode, um Verhütung, um Sex.

Viele Frauen wissen sehr wenig über ihre Geschlechtsteile. Zwei Beispiele:

  • Eine britische Krebshilfeorganisation führte vor zwei Jahren eine Umfrage unter 1000 Frauen zu dem Thema durch. Den Befragten wurde eine Grafik vorgelegt, die sie anatomisch korrekt beschriften sollten. Doch wo zum Beispiel die Vagina genau liegt, wusste nur die Hälfte der Frauen.
  • In einer Studie der Tufts University von 2014 wurden 500 Frauen nach ihren Kenntnissen des weiblichen Fortpflanzungsapparats befragt. Ob die Entfernung der Gebärmutter zu Veränderungen bei den Wechseljahren führen würde, konnte dabei nur ein Drittel der Frauen richtig beantworten.

Viele Frauen wissen wenig über ihre Genitalien, einige schämen sich dafür, manche ekeln sich sogar. Das betrifft nicht nur ältere Frauen, nicht nur Frauen aus sogenannten bildungsfernen Schichten. Auf diese Unsicherheiten trifft man bei jungen und alten Frauen, Akademikerinnen, Müttern, Schülerinnen.

Warum wissen viele Frauen so wenig über ihre Anatomie?

Andrea Hocke leitet die gynäkologische Psychosomatik am Universitätsklinikum Bonn. Das heisst, sie beschäftigt sich sowohl mit gynäkologischen Aspekten, aber auch mit dem psychischen Befinden von Patientinnen, zum Beispiel während der Schwangerschaft, der Entbindung, aber auch bei sexuellen Störungen. In ihre Klinik kommen Frauen mit Wochenbettdepressionen, Menstruationsbeschwerden, oder Eierstockzysten.

Sie sagt: 

«Ich arbeite seit fast 30 Jahren in der Gynäkologie und erlebe immer wieder, dass das Thema für viele Frauen tabu ist.»
Andrea Hocke

Sexuelle Funktionsstörungen, Geschlechtskrankheiten und andere gynäkologische Beschwerden sind Hockes Beruf – die Scham ist es daher auch. Der Umgang mit ihr. Andrea Hocke erlebt junge Frauen, die fürchten, ein Tampon zu «verlieren» oder beim Sex «zu weit» für einen Penis zu sein. Frauen, denen schon die Bezeichnung ihrer Geschlechtsteile Unbehagen bereitet, die verniedlichend «Muschi» oder gar «Fotze» sagen. Frauen, die sich noch nie getraut haben, einen Spiegel in die Hand zu nehmen, die Beine zu spreizen und sich ihre Vulva anzuschauen. Oder sie anzufassen.

Noch ein Beispiel:

Eine Mitarbeiterin von Andrea Hocke berichtete von einer Patientin, die gestand, immer besonders viel Toilettenpapier zu nutzen, sowie Tampons mit Einführhilfe, um nicht in Berührung mit ihrer Vulva zu kommen. Die Frau war Ende 20 und hatte auch einen Partner, mit dem sie Sex hatte. Aber zu ihrem Geschlechtsteil hatte sie keinerlei Bezug.

Warum ist das weibliche Geschlechtsorgan so ein Tabu? In Zeiten, in denen wir uns selbstverständlich für aufgeklärt halten, in denen man in Kneipen Kondome ziehen und im Dildo-Online-Shop sexy Spielzeug für sie und ihn bestellen kann?

Die Scham um das weibliche Geschlechtsteil wurde über Jahrhunderte antrainiert. Es galt als unrein, minderwertig und potenziell gefährlich. Und da Scham ein hartnäckiges Gefühl ist, hält sie sich auch trotz vermeintlicher Aufgeklärtheit so tapfer: «Wir haben in der Gesellschaft weniger Probleme, über den Penis zu reden, als über die Scheide,» sagt auch Andrea Hocke. Sie erlebt es jeden Tag in ihrer Praxis.

«Wenn ich dann Patientinnen frage, ob sie sich schon mal selber angeschaut haben, sind sie oft zunächst peinlich berührt und schauen mich überrascht an.»
Andrea Hocke

Selbst Ärzte hätten teilweise Probleme, die Vagina in Patientengesprächen klar zu benennen. Medizin- oder Psychologiestudium hin oder her.

Die Distanz, die Unkenntnis und das Unbehagen sind aus mehreren Gründen problematisch.

  1. Sie erschweren die medizinische Diagnose. Symptome richtig beschreiben zu können, überhaupt zu erkennen, dass etwas nicht stimmt, ist wichtig. Ein Beispiel: Manche Frauen leiden an Vaginismus, wo es zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr kommt. Wenn Frauen diese Schmerzen nicht richtig zuordnen und beschreiben können, weil sie ihre Anatomie nicht kennen, kann ihnen schwerer geholfen werden.
  2. Sie wirken sich auf die Sexualität aus. Gynäkologische Gesundheit und Sexualität liegen eng beieinander. Es gibt etliche Studien, die zeigen, wie sich Scham über den eigenen Körper negativ auf sexuelle Zufriedenheit, Abenteuerlust aber auch Verhütung auswirkt. Wer sich für seine Vulva und Vagina schämt, der traut sich bestimmte Sexualpraktiken nicht zu. Und der traut sich womöglich auch nicht zu, auf Verhütung zu bestehen, zeigen diese Studien. Und dabei bleibt nicht nur zufriedenstellender Sex auf der Strecke, sondern zuweilen auch die Gesundheit.

Das zeigt auch eine Studie der Indiana University von 2010, die den Zusammenhang von Scham über die eigenen Geschlechtsteile und sexueller Zufriedenheit untersucht hat.

«Unwohlsein mit den eigenen Genitalien könnte vermindert werden, wenn man Frauen viele verschiedene Arten des Geschlechtsteils zeigt – in Bezug auf Grösse, Farbe und Formen – um ihnen zu zeigen, dass sie nicht von der Norm abweichen und dass es kein Ideal gibt.»
Auszug aus der Studie

Wie kann man Frauen die Scham nehmen? Andrea Hocke versucht es mit Offenheit. Und einem Spiegel.

«Wir haben einen Spiegel in der Sprechstunde, und ich bitte Patientinnen manchmal, mir konkret zu zeigen, wo ihre Schmerzen sind.»
Andrea Hocke

Das Thema werde jedoch so tabuisiert, dass es selbst aus dem Mund einer Autoritätsperson wie einer Ärztin als grosse Überraschung wahrgenommen wird.

Andrea Hocke versucht, entspannt mit den Frauen über ihr Sexleben zu sprechen. «Viele fangen von sich aus an zu erzählen und sind lernwillig, wenn sie merken, dass man ihnen offen begegnet.» Oft erlebe sie auch Erleichterung: «Endlich fragt mal jemand!»

Man könne Frauen die Scham nehmen, in dem man klarstelle, dass sie nicht alleine mit ihren Problemen sind, sagt Hocke. Sie beginnt Gespräche oft mit Sätzen wie: «Das Problem haben viele Frauen» oder: «Ich habe viele Patientinnen, denen es so geht.»

Wer merkt, dass er nicht alleine mit einem Problem ist und wer merkt, dass es kein natürliches Schönheitsideal für Vulva und Vagina gibt, der kann die Scham abbauen. Dabei kann auch das genaue und liebevolle Betrachten der eigenen Geschlechtsteile helfen.

Diese Herren und Damen sind übrigens auch auf Tinder:

1 / 25
Diese Herren und Damen sind übrigens auch auf Tinder
bild: imgur
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Sex

Alle Storys anzeigen
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
15 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
pinex
10.10.2018 20:52registriert August 2014
Zu dieser gesellschaftlichen Scham gehört doch irgendwie auch, dass das Titelbild dieses Artikels eine halbe Orange zeigt 🤔 sonst sehr interessant, danke :)
3647
Melden
Zum Kommentar
avatar
FyRn4d4
10.10.2018 21:18registriert März 2017
Ein Daumen hoch dafür, dass im Artikel nie vom Schambereich oder der weiblichen Scham gesprochen wird.
Es fängt ja nur schon bei diesen altertümlichen Bezeichnungen an, dass Frau ja nicht darüber sprechen soll.
2155
Melden
Zum Kommentar
avatar
Gummibär
11.10.2018 08:14registriert Dezember 2016
Es würde mich überraschen, hier eine Orange zu finden ....
Warum wissen Frauen nicht, wo ihre Vagina liegt? Wir haben eine Gynäkologin gefragt
Es würde mich überraschen, hier eine Orange zu finden ....
461
Melden
Zum Kommentar
15
«Du bist so dick, ich muss in den Thurgau kehren gehen, damit ich an dir vorbeikomme»
Über eine Million Menschen in der Schweiz sind adipös, also stark übergewichtig. Das Bedürfnis nach einer Behandlung ist gross, die Wartezeiten für eine Therapie lang. Yvonne Gallusser und Mirjam Koch haben die Krankheit überwunden, leiden jedoch bis heute unter den Folgen.

Es sind Zahlen, die aufhorchen lassen. Eine Milliarde Menschen auf der Erde sind stark übergewichtig, sogenannt adipös, davon 880 Millionen Erwachsene. Dies geht aus einer im März veröffentlichten Studie hervor, an der auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beteiligt war.

Zur Story