Im Dezember 1930 wurde in «La Cucina Italiana», einem vom faschistischen Herausgeber Umberto Notari und seiner Frau Delia Pavoni Notari gegründeten Magazin, ein «Manifest der Futuristischen Küche» veröffentlicht. Der Verfasser Filippo Marinetti bezeichnete darin die Pasta als «absurde italienische gastronomische Religion» und forderte ihre Abschaffung.
Marinetti war Begründer und der prominenteste Vertreter des Futurismus, einer 1909 begründeten avantgardistischen Kunstbewegung, die den Anspruch erhob, eine neue Kultur zu begründen, und ihre Gestalt in Kunst, Architektur, Poesie, Musik und Kino fand. Die Futuristen begeisterten sich für Technik, Geschwindigkeit oder Krieg und waren eng mit dem zeitgleich in Italien aufstrebenden Faschismus verbandelt. Die Futuristen lehnten Museen, Bibliotheken und jede Form von Blick zurück in die Vergangenheit ab. Nach ihrer Sicht waren Traditionen in Italien verantwortlich für den Niedergang.
Zu diesen gehörte auch die kulinarische Tradition. Im 1930er «Manifest der Futuristischen Küche» und im «Futuristischen Kochbuch» von 1932 beschrieb Marinetti eine nahe Zukunft, in der die italienische Bevölkerung ihre Nährstoffe in Pillenform zu sich nehmen werde und Mahlzeiten zu Performance-Kunst würden, die durch Technologie, Parfüm und Musik aufgewertet werde. Er plädierte für experimentelle, oftmals absurde Gerichte – Salami in Kaffee und Eau de Cologne gekocht, irgendwer? – und für die Abschaffung von Messer und Gabel.
Vor allem aber war Pasta gemäss Marinetti die Wurzel allen Übels, die Hauptursache für Italiens Rückständigkeit gar. «Pasta ist nicht gut für Italiener», schrieb er und behauptete, sie verursache Störungen in der Bauchspeicheldrüse und der Leber, was zu «Faulheit, Pessimismus, nostalgischer Untätigkeit und Neutralismus» führe.
Dies waren mitnichten die Ansichten eines einzelnen Exzentrikers. Marinettis Meinung teilten viele: «Pasta ist wie unsere Rhetorik – nur gut, um den Mund zu füllen», kommentierte der faschistische Theaterkritiker Marco Ramperti etwa. Der Dichter Gabriel Audisio nannte die Pasta eine «Diktatur des Magens», die einen «Rhythmus der Faulheit» erfordere.
Auch konnte Marinetti auf (zumindest ideologische) Unterstützung von höchster Stelle zählen: Italiens Diktator Benito Mussolini war ähnlich unbeeindruckt von der weltberühmten kulinarischen Tradition seines Landes. Er war ein schneller Esser und wie sein Freund Adolf Hitler war er ein ungeduldiger, widerwilliger Teilnehmer an langen, formellen Mahlzeiten, etwa als Gast des italienischen Königs.
Mussolinis Anti-Pasta-Haltung hatte zusätzlich noch strategische, wirtschaftliche Gründe: Indem er versuchte, die Italiener davon zu überzeugen, Pasta zugunsten von Reis aufzugeben, wollte er Italien von ausländischen Weizenimporten befreien, deren Beschaffung angesichts internationaler Sanktionen und einer angeschlagenen Binnenwirtschaft immer schwieriger wurde. Reis aber gedieh in Norditalien gut.
Aber ... – man kann sich's ja vorstellen. Die Anti-Pasta-Bemühungen der Futuristen und der Faschisten kamen bei der italienischen Bevölkerung gar nicht gut an. In Aquila in den Abruzzen verfassten die Frauen der Stadt einen Protestbrief, in dem «die Ehre der Pasta» verteidigt wurde. Der Bürgermeister von Neapel verkündete, «im Paradies essen die Engel ausschliesslich vermicelli al pomodoro». Die Zeitschrift La settimana modenese bezeichnete Marinetti und seine futuristischen Verbündeten als «zu lange gekocht».
1932 platzierte sich «La Cucina Italiana» – ebendiese Zeitschrift, die ein Jahr zuvor Marinettis Manifest publiziert hatte – mitten in der Kontroverse, als sie einen vom italienischen Pastahersteller Puritas gesponserten Wettbewerb veranstaltete, bei dem es darum ging, die beste Sauce zu einem Kilogramm Puritas-Maccheroni zu kreieren. Herausgeber Umberto Notari wusste die Kontroverse für Promozwecke zu nutzen – und wohl deshalb wurde für die Wettbewerbsjury, nebst den üblichen hochrangigen Vertretern der damaligen italienischen Kulturelite, niemand Geringeres als der Anti-Pasta-Papst himself, Filippo Marinetti, nominiert.
Und dieser hielt, was er versprach: Laut Kulinarik-Historikerin Samanta Cornaviera erschien Marinetti publikumswirksam verspätet und verlangte sofort lautstark, die teilnehmenden Saucen nur mit Reis zu kosten statt mit der von ihm verachteten Pasta. Schlussendlich konnte sich aber Marinetti mit den anderen Juroren auf einen Sieger einigen: Amedeo Pettini, ehemaliger königlicher Küchenchef und landesweit bekannter Gastrokritiker. Pettini präsentierte eine Sauce aus Tomaten, Sardellen, sautierten Artischocken, Schinken und gehackten Pistazien.
Er nannte sie:
Sugo Marinetti.
Letztendlich hatte Marinetti mit seinem Krieg gegen Pasta ebenso wenig Erfolg wie Mussolini mit seinem wahrhaften Krieg gegen die Alliierten. Marinetti verstarb im Dezember 1944. Mussolini wurde wenige Monate später im April 1945 hingerichtet. Während des italienischen Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit wurde Pasta noch beliebter als je zuvor.
Heute ist der Krieg gegen Pasta längst vergessen. Leider geriet die Sugo Marinetti ebenfalls in Vergessenheit – wäre da nicht die kulinarische Historienforschung. Samanta Cornaviera empfiehlt, Sugo Marinetti vor allem deshalb zu probieren, weil sie «delizioso» ist.
Und ausserdem kann man seinen Gästen die grossartige Story dazu erzählen.