Auf 41 Grad stieg das Fieber beim Neunjährigen Buben an, als er vergangene Woche mit Masern im Bett lag. Das war der Moment, wo ihm die Eltern, die einen sehr zurückhaltenden Umgang mit Medikamenten pflegen, Dafalgan verabreichten. Masern gilt als eine der heftigsten Kinderkrankheiten. Doch Angst habe sie keine gehabt, sagt die Mutter. Es war für sie auch von Anfang an klar, dass der kleine Bruder die Krankheit ebenfalls würde durchstehen müssen – Masern ist hochansteckend. Inzwischen ist es so weit, der Siebenjährige wurde bereits von einem ersten Fieberschub erwischt.
Beide Kinder gehen an die Rudolf-Steiner-Schule in Biel, wo Anfang Monat ein erster Fall von Masern gemeldet wurde. Um eine Epidemie zu verhindern, hat die kantonale Gesundheitsbehörde rasch reagiert: Zu Beginn hat sie die nicht geimpften Kinder aus der betroffenen Klasse sowie deren Geschwister angewiesen, drei Wochen lang zu Hause zu bleiben. Unterdessen wurde die Weisung auf sämtliche Klassen im Schulhaus ausgeweitet.
Rund zwölf Fälle von Masern sind der bernischen Gesundheitsdirektion bislang bekannt (Stand Montag). Alle Kinder besuchen in Biel die Steiner-Schule – was nicht ganz Zufall ist. «An dieser Steiner-Schule scheint die Durchimpfungsrate geringer zu sein als in der Gesamtbevölkerung, weshalb es zu mehr Ansteckungen kommt», sagt Lorenz Amsler vom Kantonsarztamt.
Im Kanton Bern waren laut einer Erhebung im Jahr 2014 über neunzig Prozent der zwei-, acht- und sechzehnjährigen Kinder durch mindestens eine Impfdosis gegen Masern, Mumps und Röteln geschützt. Ungefähr 80 Prozent waren mit zwei Dosen geimpft, wie es die Behörden empfehlen.
Der aktuelle Ausbruch scheint aus dem Kanton Neuenburg in die Region Biel gelangt zu sein. In jenem Kanton wurden fünf Fälle registriert. Vier der betroffenen Kinder besuchen die Steiner-Schule in Biel. An weiteren Schulen ist das Virus bislang nicht aufgetreten.
Laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) kommt es bei jeder zehnten Masernerkrankung zu Komplikationen, bei Erwachsenen häufiger als bei Kindern. Während der letzten grösseren Epidemie in der Schweiz, in den Jahren 2006 bis 2009, wurden 4400 Patienten und Patientinnen gemeldet. Bei vier bis fünf Prozent davon kam es zu einer Lungenentzündung, bei ebenso vielen zu einer Mittelohrentzündung. Bei neun Personen trat eine Hirnentzündung (Enzephalitis) auf.
Eine Krankheit, die bleibende Schäden hinterlassen kann. 2009 gab es auch einen Todesfall. Seither ist in der Schweiz nur im Jahr 2018 eine Person an Masern gestorben: ein geimpfter Mann mit Leukämie, dessen Immunsystem durch eine Chemotherapie unterdrückt war.
Mit den aktuellen Schulsperren in Biel sollen nun insbesondere jene Menschen geschützt werden, die sich nicht impfen lassen können, wie Säuglinge unter sechs Monaten, schwangere Frauen sowie Personen mit einer Immunschwäche. Der Ausbruch des Masernvirus hat aber auch unter Menschen, die freiwillig aufs Impfen verzichten, für Verunsicherung gesorgt. Im Umfeld der Steiner-Schule entschieden sich viele Eltern kurzfristig, die Impfung für ihre Kinder nachzuholen, um sie vor möglichen Komplikationen zu schützen.
Die Impfung kann noch einen Schutz verleihen, wenn sie innert drei Tagen nach dem ersten Kontakt zu einer erkrankten Person nachgeholt wird. «Wir haben in den vergangenen zwei Wochen ungefähr zwanzig Impfungen gemacht», berichtet Barbara Koch, Praxisassistentin in der Gruppenpraxis Kinderärzte am Medizinischen Zentrum Biel. Inzwischen seien die Anfragen aber zurückgegangen.
Die Mutter des betroffenen Neunjährigen hat auch nach dem Bekanntwerden des ersten Masernfalls in der Klasse des Sohnes keine Impfung für ihre Kinder in Betracht gezogen. «Ich bin überzeugt, dass die Nebenwirkungen einer Impfung schlimmer sein können als die Krankheit selber», sagt sie.
Das Durchmachen der Kinderkrankheiten hält sie für wertvoll für die Entwicklung des Kindes. Das BAG argumentiert dagegen mit der Statistik, gemäss der Komplikationen wie Hirnentzündungen bei einem Masernausbruch deutlich häufiger sind als bei einer Impfung. Der oft zitierte angebliche Zusammenhang zwischen Impfung und Autismus basiere auf einer Studie mit gefälschten Daten.
Sowohl das BAG als auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verfolgen das Ziel, die Masern komplett zu eliminieren. In den vergangenen Jahren gab es in der Schweiz jeweils noch ein paar Dutzend Fälle. Nachdem die Familie die Erkrankung ihres Sohnes gemeldet hatte, wurde sie von Lorenz Amsler vom Kantonsarztamt persönlich angerufen. «Das hat Eindruck gemacht», sagt die Mutter.
Der Bruder des Erkrankten dürfe vorübergehend nicht mehr unter andere Kinder gehen, hiess es. Die Skiferien hatte die Familie in Vorahnung bereits abgeblasen – ein paar Tage bevor die Krankheit in ihrer Familie ausgebrochen war. Die Mutter selber ist geimpft, entschied sich aber trotzdem, ihrer Arbeit in einer Kindertagesstätte ein paar Tage fernzubleiben. Ein Bluttest soll bestätigen, dass sie immun ist, damit sie auf keinen Fall an ihrem Arbeitsort Säuglinge oder Schwangere ansteckt.
Ihr Sohn ist seit ein paar Tagen fieberfrei. Gestern – zehn Tage nach dem Ausbruch der Krankheit– habe er bereits wieder eine Weile draussen im Garten gespielt, sich danach aber nochmals hingelegt, erzählt die Mutter. Ansteckend ist er nicht mehr. Und so wird er in ein paar Tagen voraussichtlich wieder zur Schule gehen, während seine nicht geimpften gesunden Gspänli noch zu Hause bleiben müssen. (aargauerzeitung.ch)