Vor sehr langer Zeit, in einem weit entfernten Land lebte einst eine Königin, die weniger Follower als ihre Stieftochter Schneewittchen hatte. Die Königin war jedoch ehrgeizig und schmiedete an einem Plan, der sie wieder beliebter machen und deren beider Leben für immer verändern sollte ...
Als die Königin das Wittchen in ihre Pläne einweihen wollte, war diese nicht zugegen. Wie man es von ihr gewohnt war, bastelte sie munter an ihrer Insta-Story.
Die Tragödie nahm, wie man es halt so kennt, ihren Lauf, als der Akku zu neige ging. Während ihr Smartphone an der Powerbank wieder auflud, gönnte sie sich einen Nap.
Zum Glück hat Schneewittchen bereits ihren Standort geteilt, denn so erreichte die nach Fame durstende Königin ihre Stieftochter just in dem Moment, als ein rolliger Jüngling die schlafende Influencer-Schönheit küssen will.
... und der Shitstorm somit perfekt.
Ohne, dass so irgendwem in irgendeiner Sache tatsächlich geholfen worden wäre, bekam die Königin jene Aufmerksamkeit, nach der sie sich so innig gesehnt hat und lebte mit Schneewittchen und einem gemeinsamen Youtube-Channel bis ans Ende des Social-Media-Hypes.
Holzschnitzer Geppetto schnitzt eine Puppe aus Holz, die zu sprechen beginnt. Namentlich ist dieses Geschöpf schnell als Pinocchio klassifiziert. Als naiv-gewitztes Schlitzohr erster Güte lässt dieser sich immer wieder gerne zu kleineren und grösseren Lügen hinreissen.
Das Problem war, dass die Nase proportional zum Bullshit-Koeffizienten wuchs. Schwierig in Zeiten, in denen jede und jeder eine ganze Enzyklopädie in der Hosentasche hat.
Das brachte Pinocchio regelmässig in unangenehme Situationen.
Pinocchio editierte von diesem Tag an alle Wikipedia-Seiten nach seinen Vorstellungen, sodass er nie mehr lügen musste. Denn was im Internet steht, wird für wahr befunden. Und so lebte er mit einer Stupsnase vor sich hin, bis er eines Tages in den Himmel aufstieg und zu Gott wurde. So steht es jedenfalls auf Wikipedia.
Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. Hänsel und Gretel sind Digital Natives.
Die ausbleibende Kinder-Kundschaft zwang die Pächterin des legendären Knusperhauses dazu, ihre Zelte abzubrechen.
Die Neuorientierung in der Stadt bekam ihr äusserst gut. Durch ein neues, dynamisches Umfeld wurde ihr bewusst, dass der ihr innewohnende Groll und Zorn aus ihrer unterdrückten Zuneigung fürs weibliche Geschlecht resultierte.
Mit ihrer späteren Lebenspartnerin Ulmagunde-Estefania, die sie über eine Online-Dating-Plattform kennengelernt hat, verbrachte sie noch einige glückliche Jahre, ehe sie sich nach einem klärenden Streit zufrieden und mit sich im Reinen dem Single-Leben zuwendete.
Am Tage ihres 15. Geburtstags verspürte Dornröschen den Drang zu Spinnen – wer kennt das schon nicht. Im obersten Zimmer des klobigen Turms wurde sie prompt fündig. Sie verletzt sich an der Spindel und ehe sie sich in Foren über medizinische Risiken informieren kann, fällt sie in einen tiefen, tiefen Schlaf. Und zwar für 100 Jah- ...
... 9 Stunden. Denn dann geht der Wecker los, den sie sich jeweils für die ganze Woche stellt. Schnurstracks wird sie aus ihrem seligen Schlaf gerissen, während sie es tugendhaft und einer Prinzessin würdig vermeidet, auf den Snooze-Button zu klicken.
Sie steht auf, lebt ihr Leben, heiratet zweimal, wird nach dem Tod ihres Vater Königin, vertut sich mit dem Staatsbudget und fällt schliesslich einer rebellischen Putsch-Bewegung zum Opfer.
Am Tag, an dem Dornröschen 115 Jahre alt geworden wäre, kreuzt ein Prinz bei den Schlossruinen der Alt-Aristokratie auf. Aus Interesse googlet er die Geschichte des verwachsenen Schlosses, macht ein Selfie und zieht weiter. Sachen gibt's.
Mit zwölf Jahren wird Rapunzel in einen Turm gesperrt, weil ihr Vater AGB's akzeptiert hat, ohne diese gründlich durchgelesen zu haben. Zum Glück hatte sie ihr Smartphone dabei. Sie scrollte Tag ein, Tag aus jegliche Social-Media-Kanäle durch und verlebte ein glückliches Leben.